Aktualisierung des Textes von 2019

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Auszug aus dem Manifest von Ventotete:

„Die dank der modernen Technik beinahe unbegrenzte Leistungsfähigkeit der Massenproduktion lebensnotwendiger Güter gestattet heutzutage, allen mit verhältnismäßig geringen sozialen Kosten Wohnung, Essen und Kleidung zu sichern, außerdem jenes für die menschliche Würde unverzichtbare Minimum an Komfort. Die menschliche Solidarität mit denen, die im Wirtschaftskampf unterliegen, darf jedoch keine karitativen Formen annehmen, die den Empfänger demütigen und gerade jene Übel erzeugen, deren Folgen man zu bekämpfen wünscht. Sie muss im Gegenteil eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, die jedem bedingungslos eine angemessene Lebenshaltung ermöglicht, könne er nun arbeiten oder nicht, ohne indes dem Anreiz zu Arbeit und zum Sparen zu vermindern. So kann niemand mehr aus Elend dazu verleitet werden, halsabschneiderische Arbeitsverträge einzugehen.“

Die als „Manifest von Ventotene“[1] bekannte Schrift wurde hauptsächlich von dem Kommunisten und Antifaschisten Altiero Spinelli 1941 in politischer Gefangenschaft geschrieben. Spinelli war später Mitglied der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments. Er wird zu den Gründungsvätern der EU gerechnet. In der Schrift „Für ein freies und einiges Europa. Projekt eines Manifests“, so der eigentliche Name des Manifests,wurde das Ideal eines Europäischen Föderalismus‘ und der Europäischen Integration entworfen. Nach Altiero Spinelli ist das Hauptgebäude des Europäischen Parlaments benannt.    

Im folgenden Beitrag wird gefragt, ob die von Philippe Van Parijs vorgeschlagene Euro-Dividende geeignet ist, um den Weg in Richtung Grundeinkommen in der EU zu ebnen und ob sie tatsächlich einen Beitrag zur Abfederung der Folgen bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten eines Mitgliedslandes leisten kann. Dazu wird die Euro-Dividende hinsichtlich ihrer Ausgestaltung, Effektivität, Auswirkungen und Umsetzbarkeit untersucht und in zwölf Punkten kritisiert. Verwiesen wird auf einen alternativen Weg der Implementierung von Grundeinkommen in der EU, der an politischen Aktivitäten und Aussagen des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission und von Nichtregierungsorganisationen in der EU anknüpft: die Einführung von EU-Mindeststandards für soziale Transfers zur Sicherung der materiellen Existenz und zur Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe und die Entwicklung von Mindesteinkommen zu Grundeinkommen. Die Einführung von Grundeinkommen in den EU-Mitgliedstaaten ist damit möglich und kann von der EU gefördert werden. Auch im Hinblick auf gelingende Bündnispartnerschaften mit anderen sozialen Bewegungen und politischen Kräften für eine soziale und gerechte EU wären diese Alternativen bedeutend sinnvoller als die Euro-Dividende oder andere Ansätze transnationaler partieller Grundeinkommen mit deren problematischen Effekten.

Philippe Van Parijs (2013/2017) schlägt eine sogenannte Euro-Dividende vor, einen bedingungslos gezahlten Transfer für alle Bewohner/innen der EU beziehungsweise der Eurozone. Die Euro-Dividende soll durchschnittlich 200 Euro betragen. Sie versteht sich als ein transnationales Transfersystem, welches durch die jeweiligen Mitgliedstaaten finanziert werden und eine Umverteilung der Gewinne der europäischen Integration bewirken soll. Sie bedeutet für viele, insbesondere für Arme, keine Verbesserung ihrer Einkommenssituation und verschärft die soziale Ungleichheit in den einzelnen Ländern.

Grundsätzlich kann man die Probleme der Eurozone beziehungsweise der EU, die von Van Parijs für die Begründung der Euro-Dividende aufgeführt werden, bestätigen: Das sind die fehlenden Mechanismen innerhalb des Staatenbundes, die für eine Abfederung der Folgen bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten eines Mitgliedslandes sorgen – zum Beispiel finanzielle Ausgleiche innerhalb des Staatenbundes. Gleichwohl stellt sich die Frage, warum die Problembereiche mit einem partiellen Grundeinkommen gelöst werden sollen. Sind andere Instrumente dafür nicht viel geeigneter? Zur Beantwortung dieser Frage muss keineswegs auf den problematischen Vorschlag einer Europäischen Arbeitslosenversicherung zurückgegriffen werden. Es gibt andere, emanzipatorische Alternativen zur Euro-Dividende.

Zwölf Kritiken an der Euro-Dividende – Thesen

Die folgende Kritik bezieht sich ausschließlich auf den konkreten Vorschlag von Van Parijs. Sie gilt aber weitestgehend auch für andere Ansätze eines transnationalen partiellen Grundeinkommens[2] auf EU-Ebene.

1. Die Anspruchsberechtigung ist unklar

Van Parijs macht widersprüchliche Angaben zum Kreis der Anspruchsberechtigten der Euro-Dividende: Mal ist es a) jede/r legale Bewohner/in der EU, mal b) jede/r legale Bewohner/in einer der Mitgliedsländer der Eurozone beziehungsweise derjenigen Länder, die den Euro in Kürze einführen werden, mal ist es c) jede/r Bewohner/in. Schon diese Unklarheiten bezüglich des Kreises der Anspruchsberechtigten werfen allerhand Fragen auf (vgl. Van Parijs 2013; Van Parijs/Vanderborght 2017: 235; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2017: 6f.). Eine Einengung auf legale (rechtmäßige) Bewohner/innen ist menschenrechtlich problematisch. Der menschenrechtliche Ansatz lautet: Kein Mensch ist illegal!

2. Die Finanzierung ist unklar

Die Finanzierung der Euro-Dividende ist vollkommen unklar beziehungsweise unausgereift sowie EU-vertragsrechtlich problematisch.

a) Es wird mit „etwa 20 Prozent der EU-weit harmonisierten Mehrwertsteuerbasis“ als Finanzierungsgrundlage der Euro-Dividende durch Van Parijs argumentiert (Van Parijs 2013). Bisher gelten in der EU 0,3 Prozent der harmonisierten Mehrwertsteuerbasis als Beitragssatz der EU-Länder zur teilweisen Finanzierung von EU-Ausgaben.[3] Eine Steigerung auf 20 Prozent der EU-weit harmonisierten Mehrwertsteuerbasis zur (Mit)Finanzierung der EU-Eigenmittel inklusive der Mittel für die Euro-Dividende würde „die Frage nach den Bedingungen und Grenzen der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit des Verfassungsstaates im Rahmen der europäischen Integration Deutschlands“ (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2017: 10f.) stellen. Dies gilt sicher auch für andere Länder. Denn es würden erhebliche Mittel zur Finanzierung der öffentlichen Ausgaben und für das Sozialsystem des jeweiligen Landes fehlen, da sie nun an die EU gehen würden.[4] Ein Sozialabbau und Abbau öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistungen in den betreffenden Ländern kann dadurch provoziert werden (vgl. These 8).

b) Wäre dagegen durch Van Parijs gemeint, die Euro-Dividende durch eine Anhebung des Mindestmehrwertsteuersatzes in allen Ländern auf 20 Prozent (vgl. Van Parijs 2013) beziehungsweise 19 Prozent (Van Parijs/Vanderborght 2017: 239) zu finanzieren, würde sich nicht nur die Frage nach der Grenze EU-vertraglicher Normierungsmöglichkeiten bei der Harmonisierung der Mindeststeuersätze für indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer stellen (vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2017: 9), sondern es stellt sich auch die Frage, ob damit nicht die Ärmsten getroffen werden. Denn eine Erhöhung der Mindestmehrwertsteuersätze bedeutet Kaufkraftverlust: Dieser Kaufkraftverlust trifft am stärksten die unteren Einkommensschichten. Auch der Kaufkraftwert der Euro-Dividende selbst würde durch diese Finanzierungsart gemindert. Dies wäre noch mehr der Fall, wenn der Mehrwertsteuersatz sich sogar um 20 Prozentpunkte erhöhen würde, oder die Mehrwertsteuer mal auf bzw. mal um 20 Prozent erhöht würde, wie einige den Vorschlag von Van Parijs deuten. Der Kaufkraftverlust würde auch eintreten, wenn im Gegenzug die nationale Komponente des gesamten Mehrwertsteuersatzes teilweise gesenkt würde, wie Van Parijs es als Möglichkeit beschreibt (vgl. dazu Van Parijs 2013, Van Parijs/Vanderborght 2017: 240). In diesem Falle würden darüber hinaus, wie bei Punkt a) beschrieben, nationale Steuereinnahmen sinken. Geringere Steuereinnahmen haben Konsequenzen, die Van Parijs so beschreibt: „Die Sozialausgaben der Mitgliedsländer könnten und sollten nach unten […] angepasst werden […].“ (Van Parijs 2013) Daraus ergibt sich ein grundlegender Konflikt zwischen dem Ziel eines Sozialsystems mit einer nationalen und einer europäischen Komponente und dem Ziel der Stützung nationaler Kapazitäten zur sozialen Stabilisierung. Dieser Zielkonflikt kann sich sogar in eine manifeste Destabilisierung sozialer Verhältnisse in den Ländern Europas ausweiten. Dazu weiter unten mehr.       

c) Andere Möglichkeiten der Finanzierung der Euro-Dividende oder anderer transnationaler partieller Grundeinkommen (beispielsweise durch die Einkommensteuer, durch Steuern auf Naturressourcenverbrauch oder Ähnliches) sind weder auf ihre EU-vertragsrechtlich gesicherte Durchführbarkeit noch auf ihre Wirkungen insbesondere im Hinblick auf die unteren und mittleren Einkommensschichten geprüft.

Die Finanzierung der Euro-Dividende nach Van Parijs ist also vollkommen unklar und darüber hinaus problematisch. Das kann man auch unschwer aus den verschiedenen, zum Teil sogar widersprüchlichen Interpretationen des Finanzierungsvorschlags der Euro-Dividende von Van Parijs ablesen. Grundsätzlich aber wäre EU-vertragsrechtlich ein für die Euro-Dividende nötiger neuer Eigenmittelbeschluss der EU – egal woraus diese Eigenmittel sich speisen – nur dann möglich, wenn alle Mitgliedstaaten dem zustimmen. Das dürfte äußerst unwahrscheinlich sein.

3. Die Euro-Dividende verhindert keine Armut

Die Euro-Dividende von durchschnittlich 200 Euro monatlich verhindert als alleinige Einkommensquelle keine Armut in den Ländern der EU, denn selbst in den Ländern mit der niedrigsten Armutsrisikogrenze liegt diese über 200 Euro.[5] Aber auch in den Ländern, in denen die monatliche Armutsrisikogrenze knapp oberhalb von 200 Euro liegt (beispielsweise in Bulgarien und Rumänien, vgl. Eurostat), ist Armut nicht ausgeschlossen. Denn es wird von Van Parijs von einer durchschnittlichen Höhe der Euro-Dividende von 200 Euro gesprochen. Sie kann in den armen und ärmsten Ländern also durchaus niedriger sein: „Ihre Höhe kann von Land zu Land entsprechend der Lebenshaltungskosten variieren“ (Van Parijs 2013). Das würde bedeuten, dass auch in den armen und ärmsten Ländern Armut nicht beseitigt wird, sofern die Euro-Dividende für bestimmte Personen alleinige Einkommensquelle wäre bzw. bestehende, nicht Armut verhindernde Sozialleistungen in Höhe der Euro-Dividende gekürzt würden. Grundsätzlich bleiben aber alle diejenigen in Armut, die nicht zum Personenkreis der Anspruchsberechtigten der Euro-Dividende gehören (These 1). Genauso bleiben grundsätzlich diejenigen einkommensarm, deren Armutslücke größer als 200 Euro bzw. größer als die jeweilige landesspezifische Höhe der Euro-Dividende ist, die also selbst bei einem an dieser Stelle unterstellten zusätzlichen Einkommen durch die Euro-Dividende weiterhin unterhalb der Armutsrisikogrenze verbleiben. Darüber hinaus: Wenn, wie hier unterstellt, alle Personen 200 Euro (bzw. den landessspezifischen Betrag der Euro-Dividende) zusätzlich bekommen würden, würde sich die Armutsrisikogrenze (mediangemitteltes Nettoäquivalenzeinkommen) nach oben verschieben (weil der Einkommens-Median nach oben rutscht), so dass auch diejenigen, deren Armutslücke bisher kleiner als der Betrag der Euro-Dividende war, weiterhin einkommensarm bleiben. Die Armutsquoten würden sich nicht verändern (relative Armut).[6]

Allerdings hat Van Parijs darauf verwiesen, dass keineswegs automatisch alle Nettoeinkommen der Steuerpflichtigen steigen würden. Denn die Euro-Dividende „kann als gleichwertig mit einer einheitlichen Steuergutschrift angesehen werden, die die üblichen Steuerbefreiungen in den unteren Einkommensklassen jedes Einkommensteuerpflichtigen ersetzen würde“ (Van Parijs/Vanderborght 2017: 240). Das würde aber ebenfalls bedeuten, dass Armut der Steuerpflichtigen mit einem niedrigen Einkommen nicht verhindert wird beziehungsweise keine Einkommenserhöhung für diese Personengruppe durch die Euro-Dividende erfolgt.

4. Die Einkommenssituation von Sozialleistungs­bezieher*innen wird nicht verbessert

Die Euro-Dividende gilt Van Parijs als „eine universelle und bedingungslose Basis, die nach Belieben durch Arbeitseinkommen, Kapitaleinkommen und Sozialleistungen ergänzt werden kann“ (Van Parijs 2013). Diese Ergänzungsmöglichkeit „nach Belieben“ ist aber bei vielen Sozialleistungen in den Ländern keineswegs gegeben. Denn viele der bestehenden Sozialleistungen sind bedürftigkeitsgeprüft (sozialadministrative Prüfung von Einkommen und Vermögen), zum Beispiel alle Grundsicherungen beziehungsweise Sozialhilfen, auch das Wohngeld, in Deutschland auch die Ausbildungsförderung. Das heißt, die Euro-Dividende würde auf diese Leistungen angerechnet und damit diese bedürftigkeitsgeprüften Sozialleistungen minimieren. Denn die Grundsicherung/Sozialhilfe soll per Definition das Existenzminimum von Bedürftigen absichern, was mit der Euro-Dividende dann teilweise schon geschehen würde. Mit dieser Begründung ließe sich dann in den einzelnen Ländern die Anrechnung der Euro-Dividende auf die bestehende individuelle Sozialleistung begründen. Dagegen könnte die EU nicht vorgehen, denn die Mitgliedstaaten allein entscheiden über die Ausgestaltung und Grundprinzipien ihrer Sozialsysteme. Die Euro-Dividende nach Van Parijs beinhaltet nun ausdrücklich die Ersetzung der bestehenden nationalstaatlichen Sozialleistungen in Höhe der Euro-Dividende (These 8): Die Euro-Dividende ist also keine Ergänzung, sondern eine Ersetzung bestehender Sozialleistungen in Höhe der Euro-Dividende.

Ob nun eine generelle Ersetzung bestehender Sozialleistungen in Höhe der Euro-Dividende oder eine individuelle Anrechnung der Euro-Dividende auf die bedürftigkeitsgeprüften Sozialleistungen: die Einkommenssituation der bisher diese Leistungen Beziehenden würde sich in beiden Fällen nicht verändern. Wenn sie trotz nationaler Sozialleistungen arm sind, verbleiben sie auch mit der Euro-Dividende in Armut. Das heißt also: Auch für diese Personengruppe, die im Sozialleistungsbezug und somit nicht einkommensteuerpflichtig ist, verändert sich die Armutsquote nicht grundlegend. Außerdem: Wenn die Euro-Dividende über eine erhöhte Mindestmehrwertsteuer finanziert würde, würde sich die soziale Situation derjenigen, die Sozialleistungen beziehen, sogar verschlechtern, sie hätten unterm Strich möglicherweise sogar noch weniger Kaufkraft.

5. Weiterhin Abhängigkeit vom entwürdigenden und repressiven Sozialleistungssystem

Die Euro-Dividende befreit viele Menschen nicht von der Abhängigkeit von bestehenden repressiven und sanktionsbewehrten Sozialleistungen und von der Sozialbürokratie. Viele verbleiben im jeweiligen entwürdigenden, diskriminierenden und stigmatisierenden Sozialleistungssystem und werden nicht vom ökonomisch erpressten Arbeitszwang befreit. Das gilt für alle Menschen, die grundsätzlich höhere Sozialleistungen als die Euro-Dividende haben (vgl. Blaschke 2011, Blaschke 2014 – Text, Blaschke 2014 – Präsentation). Dies bestätigt Van Parijs: Die Euro-Dividende käme nicht „on top“ auf bestehende Sozialleistungen, sondern würde den unteren Sockel aller existierenden Sozialleistungen bilden, und der Rest, wenn das aktuelle Niveau dieser Sozialleistungen höher ist, würde in Form der bedingten Aufstockungen gewährt werden (vgl. Van Parijs/Vanderborght 2017: 240). Auch bestätigt Van Parijs hiermit das in These 4 Festgestellte: Die Euro-Dividende verbessert nicht die Einkommenssituation von Sozialleistungsbeziehenden. Faktisch ersetzt die Euro-Dividende die bedürftigkeitsgeprüften Sozialleistungen bis zur Höhe der Euro-Dividende, was gleichbedeutend einer individuellen Anrechnung der Euro-Dividende auf die bedürftigkeitsgeprüften Sozialleistungen beziehungsweise auf die Ansprüche auf diese Sozialleistungen ist.

6. Weiterhin Nichtinanspruchnahme bedürftigkeitsgeprüfter Sozialleistungen für den Lebensunterhalt

Viele Menschen (in Deutschland zum Beispiel bis zu 68 Prozent) nehmen die ihnen zustehenden bedürftigkeitsgeprüften Sozialleistungen für den Lebensunterhalt nicht in Anspruch. Das sind in der Regel Menschen, die Ansprüche auf aufstockende Sozialleistungen haben, weil ihr Erwerbs- oder andere Einkommen (wie beispielsweise Rente) nicht ausreichend hoch sind. Grund für die Nichtinanspruchnahme der zustehenden Leistungen ist der stigmatisierende und diskriminierende Charakter bedürftigkeitsgeprüfter und repressiver sozialer Leistungen. Dies führt zu Scham, Unwissenheit und Angst vor tiefgreifenden Sozialkontrollen und Zwangsmaßnahmen, weswegen die zustehende (aufstockende) Leistung nicht in Anspruch genommen wird („non-take-up“), obwohl ein (Grund-)Rechtsanspruch darauf besteht. Die auf die Sozialleistungen angerechnete Euro-Dividende würde zwar für diejenigen die Inanspruchnahme aufstockender Sozialleistungen obsolet machen, deren Aufstockungsanspruch unter der Höhe der Euro-Dividende läge, für andere aber nicht – nämlich für diejenigen, deren Aufstockungsanspruch höher als die Euro-Dividende läge. Diese hätten nun einen zwar geringeren Aufstockungsanspruch, auf den aus beschriebenen Gründen nunmehr aber verzichtet würde: Da die Betroffenen weiterhin im entwürdigenden und repressiven Leistungssystem verblieben, wäre der Druck auf sie groß, sich dem bedürftigkeitsprüfenden, repressiven Sozialsystem unter Verzicht auf die (gering) aufstockenden Sozialleistungen zu entziehen.[7] Das heißt unterm Strich: Mit der anzurechnenden Euro-Dividende würde sich lediglich der Personenkreis derjenigen verändern, die die ihnen zustehenden Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen. In Abhängigkeit von der Einkommenssituation der von Sozialleistungen abhängigen Personengruppe könnte der Kreis derjenigen, die auf ihre aufstockenden Sozialleistungen verzichten, sogar noch größer werden – die Quote der Nichtinanspruchnahme könnte steigen. Die Euro-Dividende würde in diesem Fall den bestehenden grundrechtswidrigen Zustand hinsichtlich der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen sogar verschärfen – grundrechtswidrig deswegen, weil das Grundrecht auf die Inanspruchnahme einer zustehenden Sozialleistung systembedingt massiv eingeschränkt, die Inanspruchnahme der Sozialleistung systembedingt behindert wird.

Selbst wenn man unterstellt, dass die Euro-Dividende nicht auf bestehende bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistungen angerechnet wird (also additional wäre), würde sich nichts bzgl. der Nichtinanspruchnahme ändern: Es gibt nämlich gute Gründe zu der Annahme, dass auf bisher nicht in Anspruch genommene bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistungen, auf deren Anspruch in diesem Falle der zusätzlichen Euro-Dividende weiterhin ein Recht bestünde, auch weiterhin verzichtet wird.

7. Der Zwang zur Arbeit bleibt bestehen

Einige argumentieren, dass die Euro-Dividende zumindest den Arbeitszwang oder den Zwang zu anderen Gegenleistungen minimieren würde – weil bei Verweigerung von Arbeit oder Gegenleistung zumindest die Euro-Dividende nicht gekürzt oder entzogen werden kann. Diese Argumentation könnte hinsichtlich derjenigen wenigen Länder zutreffen, deren Sozialleistungen unterhalb der Höhe der tatsächlich gezahlten Euro-Dividende liegen. Sie kann aber nicht bezüglich der anderen Länder überzeugen: Die dort weiterhin bestehenden Sozialleistungen (vgl. These 5) können bei Verweigerung der Arbeit gekürzt werden. Das heißt, wer nicht wegen einer Kürzung der individuellen Sozialleistung unter das jeweilige Existenzminimum rutschen oder bei einer 100-Prozent-Kürzung sogar ganz ohne ergänzende Sozialleistung dastehen will, muss aus Gründen der Existenznot weiterhin seine Haut zu Markte tragen, seine Arbeitskraft verkaufen – der existenzielle Zwang zur Arbeit oder Gegenleistung bleibt trotz der Euro-Dividende bestehen. Darüber hinaus: In Ländern und Städten, in denen die Mietpreise für Wohnungen im mittleren und hohen Bereich liegen, ist dies besonders problematisch: Dem Betroffenen ist im Falle einer Kürzung oder eines Entzugs der Sozialleistung wegen Arbeitsverweigerung mit der Euro-Dividende von 200 Euro nicht die Wohnung gesichert – die Euro-Dividende schützt in diesem Falle nicht einmal vor dem Verlust der Wohnung.

8. Die Euro-Dividende reizt zu Sozialabbau an

Es könnte mit der Einführung der Euro-Dividende die grundsätzliche Senkung der bestehenden nationalen Sozialleistungen beziehungsweise Sozialleistungsausgaben um den Betrag der Euro-Dividende politisch einkalkuliert und durchgesetzt werden:

Erstens besteht die Gefahr des Abbaus nationaler Sozialleistungen, weil bereits ein Teil der Existenzsicherung durch die Euro-Dividende gegeben ist. Für Van Parijs ist die Kürzung nationaler Sozialleistungen und damit auch nationaler Sozialausgaben ausdrücklich Bestandteil des Konzepts der Euro-Dividende: „Die nationalen Haushalte würden davon profitieren, dass sie die unteren 200 Euro aller Sozialleistungen nicht mehr decken müssten“ (Van Parijs/Vanderborght 2017: 240). Die Euro-Dividende ersetzt in ihrer Höhe nationale Sozialleistungen, ergänzt sie nicht. Damit würden nach Van Parijs die „nationalen Haushalte […] von der Unterdrückung der entsprechenden Steuerausgaben profitieren. Die Mitgliedstaaten könnten daher die nationale Steuerbelastung nach unten anpassen“ (ebenda). Sie müssten die frei werdenden Steuermittel, die bisher zur Finanzierung der Sozialleistungen ausgegeben wurden, also nicht für eine Verbesserung bzw. Stabilisierung der nationalen Sozialsysteme einsetzen, damit diese vor Armut schützen. Das ist bereits in These 2b als Zielkonflikt der Euro-Dividende nach Van Parijs beschrieben wurden. 

Zweitens besteht die Gefahr des Sozialabbaus, weil die Länder sehr viel mehr als bisher an die EU zahlen müssten, um die Euro-Dividende zu finanzieren, den Ländern somit auch Mittel für die bestehenden eigenen Sozialleistungssysteme fehlen würden (Thesen 2a und 2b).

Unter Berücksichtigung, dass in vielen Ländern konservative und neoliberale Regierungen herrschen, ist der Sozialabbau, begründet mit höheren Abgaben an die EU, politisch sogar sehr wahrscheinlich. Sozialabbau wegen EU-Regelungen wäre Wasser auf die Mühlen von nationalistischen, von rechtsradikalen und rechtspopulistischen Kräften in der EU. Es würde damit auch dem Ziel der Euro-Dividende, der europäischen Integration, zuwiderlaufen.

9. Die soziale Ungleichheit wird verschärft

Mit der auf Sozialleistungen anzurechnenden Euro-Dividende würde sich die Einkommenssituation vieler Sozialleistungsbeziehenden nicht verändern, viele Menschen würden in Armut verbleiben (vgl. Thesen 3, 4, 5). Es würde sich dagegen die soziale Ungleichheit beziehungsweise Einkommens­ungleichheit in einem Land zwischen Sozialleistungsbezieher/innen und Personen mit geringem Einkommen, die mit Sozialleistungen aufstocken müssen, einerseits und Personen mit höherem Erwerbs- und mit Kapitaleinkommen andererseits verschärfen: weil bei den Ersteren die schlechte Einkommenssituation bestehen bleibt, bei den Letzteren die Euro-Dividende ein zusätzliches Einkommen wäre. Eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit beziehungsweise Einkommensungleichheit durch die Euro-Dividende wäre ebenfalls Wasser auf die Mühlen von Nationalisten, von Rechtsradikalen und Rechtspopulisten. Um es ganz deutlich zu sagen: Nicht der nötige Ausgleich zwischen armen und reichen Ländern Europas ist mein Kritikpunkt! Es wird von mir ein Vorschlag kritisiert, bei dem Sozialabbau und steigende soziale Ungleichheit in den einzelnen Ländern mögliche Folgen wären! Dies genau aus dem Grund, den Philippe Van Parjs selbst benennt: „Mitgliedstaaten sind […] gezwungen, sich wie Firmen zu benehmen, […] erpicht darauf, jegliche Sozialausgaben zu stoppen, die nicht als Investment verkauft werden können, sowie alle Modelle auslaufen zu lassen, die voraussichtlich Wohlfahrtstouristen und anderes unproduktives Volk anziehen“ (Van Parijs 2013).

10. Der Ausgleich zwischen ärmeren und reicheren Ländern wird infrage gestellt

Der gewünschte Ausgleich zwischen ärmeren und reicheren Ländern kann durch die Euro-Dividende selbst teilweise in Frage gestellt werden: Für Deutschland, das sicher ein Nettozahler für die Euro-Dividende sein sollte, wäre es finanziell von großem Vorteil, die oben genannte individuelle Anrechnung der Euro-Dividende auf die Sozialleistungen (Thesen 4, 5) oder die ebenfalls oben genannte prinzipielle Kürzung bei den Sozialleistungs- und Steuersystemen (These 8) um den Betrag der Euro-Dividende vorzunehmen. So können sich einige Länder, die ein relativ gut ausgebautes und teures Sozialleistungssystem haben, mit der Euro-Dividende oder mit anderen transnationalen partiellen Grundeinkommen auf EU-Ebene eines Teils ihrer Kosten für eigene Sozialleistungssysteme entledigen. Ärmere Länder, die dagegen kein oder nur ein gering ausgebautes Sozialleistungssystem haben, können keinen oder nur einen minimalen Entlastungseffekt bezüglich bestehender nationaler Sozialleistungs- und Steuersysteme durch die Euro-Dividende erreichen. Dies würde der Intention der Euro-Dividende, einen Ausgleich zwischen den ärmeren und den reicheren Ländern zu erreichen, zumindest teilweise zuwiderlaufen.

Zu beachten ist, dass alle Ansätze eines partiellen Grundeinkommens, die auf transnationaler EU-Ebene gedacht sind, diese bisher genannten Probleme haben.

11. Es ist fraglich, ob Migration eingedämmt wird

Nach Philippe Van Parijs würde die Euro-Dividende die Migration von Menschen aus Überlebensgründen aus ärmeren Ländern der EU in reichere Länder eindämmen. Das wäre aber erstens auch der Fall, wenn in den ärmeren Ländern ausreichende Grund- oder Mindesteinkommenssysteme durch Umverteilung geschaffen würden. Dazu bedarf es nicht der fragwürdigen und sozial hochproblematischen Euro-Dividende. Zweitens wird das Wohlstandsgefälle zwischen ärmeren und reicheren Ländern durch die Euro-Dividende nicht wesentlich minimiert, weil diese in allen in Frage kommenden Ländern eingeführt werden soll, also die Gesamteinkommen bestimmter Menschengruppen in allen diesen Ländern a) steigen beziehungsweise b) auf gleichem Niveau bleiben würden. Gründe für Migration, beispielsweise hohe Wohlfahrts- und Einkommensunterschiede zwischen den Ländern, würden also weiterhin bestehen bleiben. Allerdings würde die Verschärfung der sozialen Ungleichheit in den Ländern (These 9) die migrationsfeindliche Polemik und Politik der Nationalen, Rechtsradikalen und Rechtspopulisten befördern, somit die Migrationsfrage von rechts zuspitzen und dadurch Migration möglicherweise eindämmen.

12. Die Euro-Dividende ist EU-rechtlich problematisch

Es könnte nun argumentiert werden, dass die Euro-Dividende oder andere transnationale partielle Grundeinkommen nicht auf bestehende individuelle Sozialleistungen angerechnet werden (vgl. Thesen 4 ff.) oder dass sie nicht zu prinzipiellen Kürzungen der bestehenden nationalen Sozialleistungen führen sollen (vgl. These 8). Dies liegt aber nicht in der Entscheidungskompetenz der EU, sondern alleinig in der Entscheidungshoheit der Länder. Denn nach EU-Vertragsrecht gibt es keine Kompetenz der EU, den Mitgliedsländern eine solche individuelle Nichtanrechnung oder eine prinzipielle Nichtkürzung bestehender Sozialleistungen vorzuschreiben. Oder wie Van Parijs selbst betont: „Nach den bestehenden europäischen Verträgen ist die Sozialpolitik Sache der Mitgliedstaaten“ (Van Parijs/Vanderborght 2017: 241).

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben in zwei Ausarbeitungen grundlegende Zweifel daran geäußert, ob die Einführung der Euro-Dividende mit geltendem EU-Vertragsrecht vereinbar wäre. Dazu wurden verschiedene Vertragsbestimmungen geprüft (vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2017 und 2018). Auch wird festgestellt, dass es rechtlich zweifelhaft ist, ob das bestehende EU-Vertragsrecht eine Euro-Dividende als eine unionsrechtliche Leistung neben den nationalen Sozialleistungen ermöglicht (vgl. ebenda 2018: 2).

Grundsätzlich wird zur Euro-Dividende und ähnlichen Leistungen festgestellt: „Darüber hinaus gibt es in der bisherigen Rechtssetzungspraxis – soweit ersichtlich – keine Beispiele für EU-Maßnahmen, die vergleichbar der Euro-Dividende autonome Unionsleistungen als auch deren Finanzierung nur aus EU-Mitteln regeln. Vor diesem Hintergrund und im Lichte der übrigen Erwägungen zu den hier relevanten ausdrücklichen Kompetenzgrundlagen stellt sich die Frage, ob für ein solches Vorhaben nicht zunächst die EU-Verträge geändert werden müssten“ (ebenda: 3).

Das hier Genannte träfe natürlich auch auf alle anderen Formen und Vorschläge eines transnationalen partiellen Grundeinkommens auf EU-Ebene, ebenso auf ein EU-Basiskindergeld zu (vgl. dazu auch Wolfgang Strengmann-Kuhn in diesem Buch).

Fazit bzgl. Euro-Dividende nach Van Parijs

1. Die Einführungsmöglichkeit einer Euro-Dividende nach Van Parijs oder anderer transnationaler partieller Grundeinkommen in der EU ist EU-vertragsrechtlich höchst zweifelhaft.

2. Die sozialen Effekte der Euro-Dividende nach Van Parijs sind hochproblematisch: Verbleib vieler Menschen in Armut und in repressiven Sozialsystemen, Weiterbestehen der Nichtinanspruchnahme zustehender Sozialleistungen, verbleibender Zwang zur Arbeit oder Gegenleistung, möglicher Kaufkraftverlust, der insbesondere untere Einkommensschichten betrifft, Verschärfung der sozialen Ungleichheit beziehungsweise Einkommensungleichheit in den Ländern, Möglichkeit des Sozialabbaus beziehungsweise der prinzipiellen Kürzung sozialer Leistungen in den Ländern. Das würde nicht zur Stabilisierung, sondern zur Destabilisierung führen.

3. Ob eine Euro-Dividende oder andere transnationale partielle Grundeinkommen jemals in ein Grundeinkommen münden, das die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen in der EU sichert, also mindestens vor Einkommensarmut schützt, ist angesichts der genannten problematischen Effekte mehr als fraglich. Die Euro-Dividende könnte aufgrund dieser problematischen Effekte sogar die Bereitschaft zu Schritten zum Grundeinkommen für alle Menschen in der EU senken beziehungsweise ganz blockieren. Die Grundeinkommensidee könnte sich nachhaltig blamieren. Das ist auch meine Kritik an der Idee, die zwar ein EU-Grundeinkommen in Höhe der regionalen/nationalen Armutsrisikogrenzen beschreibt, damit tatsächlich klare Stabilisierungswirkungen in der EU erzielt werden können, dann aber wieder doch eine niedrigschwellige Einführung mit graduellen Erhöhungen vorschlägt, also ein partielles Grundeinkommen mit allen oben genannten Problemen. 

4. Es ist mehr als fraglich, ob die Euro-Dividende nach Van Parijs oder andere transnationale partielle Grundeinkommen zur Identifikation der Bürger/innen in den EU-Ländern mit der Europäischen Union beitragen können – oder zum sozialen Zusammenhalt beziehungsweise zur Beseitigung sozialer oder regionaler Disparitäten. Aufgrund der problematischen Effekte kann sie sogar desintegrativen, nationalistischen und rechten politischen Ansätzen und Kräften Vorschub leisten.

Alternativen: Für eine soziale Europäische Union mit Grundeinkommen

Es gibt besser geeignete Mittel, eine soziale Europäische Union in Bezug auf die Systeme der sozialen Sicherung zu erreichen und bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten für Ausgleiche zwischen den Ländern zu sorgen: Die Einführung EU-weit geltender Mindeststandards in den sozialen Systemen der Länder, die Armut und Ausgrenzung in diesen Ländern wirklich beseitigen – anders als die Euro-Dividende nach Van Parijs.

Zu diesen Mindeststandards gehören Mindesteinkommen in den europäischen Ländern, die mindestens die Höhe der jeweiligen nationalen Armutsrisikogrenze erreichen[8] und durch eine Umverteilung von oben nach unten in diesen Ländern finanziert werden – also soziale Ungleichheiten in den Ländern enorm reduzieren und dadurch auch den europäischen Ausgleich befördern: Denn eine Gesellschaft, in der die sozialen Ungleichheiten minimiert beziehungsweise minimal sind, ist eher bereit, Ländern, die wirtschaftliche Schwierigkeiten haben, etwas vermittels Finanztransfers zur Überwindung der Schwierigkeiten abzugeben. Bestehende, schlecht ausgestaltete Mindesteinkommen in den Ländern können mithilfe von EU-weit vereinbarten Mindeststandards (angemessene Höhe wie beschrieben, mindestens in Höhe der jeweiligen nationalen Armutsrisikogrenzen, garantierter Anspruch durch Abschaffung von Sanktionen bzw. des Zwangs zur Arbeit, Individualisierung des Anspruchs und Eliminierung der Bedürftigkeitsprüfung) zu Grundeinkommen weiterentwickelt werden. Keineswegs wird damit einer unterstützenden und ergänzenden Tätigkeit der Europäischen Union beim Ausbau dieser nationalen Mindesteinkommen zu Grundeinkommen widersprochen. Im Gegenteil:

Erstens kann (und wird im Jahr 2022 im Rahmen der Europäischen Säule sozialer Rechte) die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Rates zu Mindesteinkommen vorlegen. Das wäre eine Möglichkeit, die Stabilisierung nationaler Mindesteinkommen und deren Weiterentwicklung in Richtung Grundeinkommen zu unterstützen – wenn die EU-Länder im Europäischen Rat dem zustimmen. Die Rolle der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments bestünde darin, diesen Prozess zu initiieren bzw. aktiv und konstruktiv zu begleiten. Sowohl das Netzwerk Grundeinkommen[9] in Deutschland als auch die Unconditional Basic Income – European Initiative[10] haben in einem Aufruf an die Mitglieder des Europäischen Parlaments nachgewiesen, dass die Weiterentwicklung von Mindesteinkommen zu bedingungslosen Grundeinkommen im Einklang mit Resolutionen, Papieren und Erklärungen des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission stehen.    

Zweitens kann die Europäische Kommission auch Rechtsakte vorschlagen, die transnationalen EU-Fördersysteme zum Ausbau von Mindesteinkommen und Grundeinkommen zu nutzen. Das ergab eine bisher unveröffentlichte Studie zur Umsetzung der Europäischen Bürgerinitiative „Start bedingungsloser Grundeinkommen in der gesamten EU“, die die Beförderung von Grundeinkommen in existenz- und teilhabesichernder Höhe in allen EU-Ländern fordert.         

Natürlich gehören zu einem Projekt einer sozialen Europäischen Union auch der Ausbau der gebührenfreien öffentlichen und sozialen Infrastruktur und Dienstleistungen[11] im Bildungs- und Gesundheitsbereich und in anderen Bereichen in den Ländern, der wie bei Mindest- und Grundeinkommen über Rechtsakte bzgl. transnationaler EU-Ausgleichs- und Strukturfonds gefördert werden kann. Deutlich wäre dabei zu machen, dass der Ausbau und die Gestaltung der gebührenfreien öffentlichen und sozialen Infrastruktur und Dienstleistungen an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet, demokratisch organisiert sowie sozial und ökologisch nachhaltig sein müssen.

Im Hinblick auf gelingende Bündnispartnerschaften mit anderen sozialen Bewegungen und politischen Kräften für eine soziale und gerechte EU wären die oben genannten Alternativen bedeutend sinnvoller als die Euro-Dividende oder andere Ansätze transnationaler partieller Grundeinkommen mit deren problematischen Effekten: Wer ein soziales und starkes Europa will, muss für einen Ausgleich zwischen den Ländern und zugleich für die Beseitigung der Einkommensarmut und für die Minimierung der sozialen bzw. Einkommensungleichheit in den einzelnen Ländern sorgen.

Quellen

Blaschke, Ronald (2011): Minimum income, minimum allowances and basic income in Europe; https://www.grundeinkommen.de/content/uploads/2011/10/11-10-09-mindesteinkommen-grundeinkommen-europa-en.pdf (Abruf 15. November 2021), deutsch: https://www.ronald-blaschke.de/mindesteinkommen-mindestsicherungen-und-grundeinkommen-in-europa/ (Abruf 15. November 2021)

Blaschke, Ronald (2014 – Text): Unconditional basic income: an effective means of tackling (hidden) poverty and promoting freedom for all and democracy; https://www.grundeinkommen.de/content/uploads/2014/09/14_-_04_-_10_blaschke_brussels_en-2.pdf (Abruf 15. November  2021)

Blaschke, Ronald (2014 – Präsentation): Unconditional basic income: an effective means of tackling (hidden) poverty and promoting freedom for all and democracy; https://www.grundeinkommen.de/content/uploads/2014/09/14_-_04_-_10_powerpoint_blaschke_brussels-2.pdf (Abruf 15. November 2021)

Blaschke, Ronald (2019): Grundeinkommen – was ist das eigentlich? Und was ist ein emanzipatorisches Grundeinkommenskonzept? in: Rätz, Werner; Paternoga, Dagmar ; Reiners, Jörg ; Reipen, Gernot (Hrsgg.): Digitalisierung? Grundeinkommen! Wien, S. 14-26.

Eurostat: Armutsgefährdungsgrenze – EU-SILC (Angaben dort für Erhebungsjahr, nicht für das Einkommensjahr, welches ein Jahr vor der Erhebung der Einkommen liegt); https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/ilc_li01/default/table?lang=de (Abruf 5. Januar 2023)

Van Parijs, Philippe (2013): The Euro-Dividend; https://cdn.uclouvain.be/public/Exports%20reddot/etes/documents/2013.Euro-Dividend.Roadmap_to_Social_Europe.pdf (Abruf 15. November 2021)

Van Parijs, Philippe ; Vanderborgt, Yannick (2017): Basic Income. A radical proposal for a free society and a sane economy, Cambridge/London (Übersetzung der Zitate R.B.)

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2017): Unionsrechtliche Fragen zum Vorschlag zur Einführung einer „Euro-Dividende“; https://www.bundestag.de/blob/526282/5976305becdc347b6ce242315b6362f0/pe-6-054-17-pdf-data.pdf (Abruf 15. November 2021)

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2018): Kurzinformation zu Fragen nach dem Bestehen unionrechtlicher Vorgaben zur Umsetzung einer „Euro-Dividende“; https://www.bundestag.de/blob/577736/0347b7ed4c985c5ff4586bdf2948894b/pe-6-127-18-pdf-data.pdf (Abruf 15. November 2021)

Endnoten

[1] Vgl. https://www.cvce.eu/de/obj/das_manifest_von_ventotene_1941-de-316aa96c-e7ff-4b9e-b43a-958e96afbecc.html (Abruf 5. Januar 2023)

[2] Partielle Grundeinkommen sind bedingungslos gewährte Transfers, die – bezogen auf das jeweilige Land – nicht die Existenz sichern und gesellschaftliche Teilhabe der Menschen ermöglichen, weil sie zu niedrig sind. Das (Bedingungslose) Grundeinkommen ist dagegen wie folgt vom Netzwerk Uncondtional Basic Income Europe (UBIE) definiert: “Unconditional Basic Income (UBI) is an amount of money, paid on a regular basis to each individual unconditionally and universally, high enough to ensure a material existence and participation in society. UBI is a step towards an emancipatory welfare system.” (https://www.ubie.org/who-we-are/) Ähnlich lautet die Definition der Unconditional Basic Income – European Initiative (UBI – EI): “UBI (Unconditional Basic Income) is the sum of money paid regularly, unconditionally and universally to all individuals, high enough to ensure their material existence and participation in society. UBI is a step towards an emancipatory welfare system.“ (https://eci-ubi.eu/ubi-european-initiative/) (Abrufe 5. Januar 2022)

[3] Vgl. https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/eu-budget/long-term-eu-budget/2021-2027/revenue/own-resources/value-added-tax_de (Abruf 5. Januar 2023)

[4] Zum Vergleich: Der gesamte EU-Haushalt betrug im Jahr 2022 rund 170 Milliarden Euro. Die Euro-Dividende allein würde mindestens 1,1 Billionen Euro jährlich kosten, die durch die Mitgliedsländer der EU zu erbringen wären (rund 448 Millionen EU-Einwohner/innen * 200 Euro * 12 Monate). Für die Euro-Zone würde die Euro-Dividende etwa 821 Milliarden Euro jährlich kosten.

[5] In keinem der jetzigen 27 EU-Länder lag die Armutsrisikogrenze im Einkommensjahr 2020 (Erhebungsjahr 2021) unter 200 Euro. In 23 EU-Ländern lag sie über 400 Euro, also über dem Doppelten der durchschnittlichen Euro-Dividende. In neun EU-Ländern lag sie sogar über 1.200 Euro, also über dem Sechsfachen der durchschnittlichen Euro-Dividende (vgl. Eurostat, Werte monatlich netto, Abruf 5. Januar 2023). Werte für die Einkommensjahre 2021 und 2022 sind noch nicht verfügbar.

[6] Einkommensarmut im Sinne der relativen Armut lässt sich nur durch Einkommenserhöhungen bei den unteren Einkommensschichten bei gleichzeitiger Rück- beziehungsweise Umverteilung von Einkommen von oben nach unten abschaffen – zum Beispiel durch ein stark rück- beziehungsweise umverteilendes Grundeinkommen.

[7] Beispiele für den Anrechnungsfall: Eine erste Person, die bisher einen Anspruch auf 200 Euro (aufstockende) Sozialleistung hat und diese nicht in Anspruch genommen hatte, würde durch eine Euro-Dividende in Höhe von 200 Euro keinen Anspruch auf die Sozialleistung mehr haben. Eine zweite Person, die aber bisher einen Anspruch auf 300 Euro (aufstockende) Sozialleistung und diesen Anspruch auch wahrgenommen hatte, hätte mit einer Euro-Dividende von 200 Euro nur noch 100 Euro Anspruch auf (aufstockende) Sozialleistung. Da aber auch mit der Euro-Dividende das entwürdigende, repressive Sozialleistungssystem bestehen bliebe, wäre für diese Person der Grund für die Nichtinanspruchnahme der nunmehr geringeren (aufstockenden) Sozialleistung – wie bisher bei der ersten Person – gegeben.

[8] Dazu gibt es sowohl Entschließungen des  Europäischen Parlaments (EU, http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A6-2008-0364+0+DOC+XML+V0//DE, http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2010-0375+0+DOC+XML+V0//DE und https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2017-0403_DE.html) und eine Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (Europa, http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-DocDetails-EN.asp?FileID=24429&lang=EN), zu der der Autor dieses Beitrags fachlich zugearbeitet hat. Ebenso gibt es eine breite soziale Bewegung (siehe z. B. die Europäische Bürgerinitiative zu Bedingungslosen Grundeinkommen in der gesamten EU, https://www.ebi-grundeinkommen.de bzw. https://eci-ubi.eu). (Abrufe 5. Januar 2023)

[9] Vgl. Aufruf des Netzwerkrates des Netzwerks Grundeinkommen an die Mitglieder des Europäischen Parlaments zum Mindest- und Grundeinkommen, 8. September 2022,  https://www.grundeinkommen.de/08/09/2022/einkommensarmut-endlich-abschaffen-mindesteinkommen-zu-grundeinkommen-entwickeln.html (Abruf 5. Januar 2023)

[10] Unconditional Basic Income – European Initiative. Abolish income poverty at last! Develop Minimum Income as Unconditional Basic Income!, 12. September 2022, https://eci-ubi.eu/abolish-income-poverty-at-last-letter-to-members-of-the-european-parliament/ (Abruf 5. Januar 2023)

[11] Der gebührenfreie Zugang zur öffentlichen und sozialen Infrastruktur und Dienstleistung folgt den Prinzipien des Grundeinkommens: individuell garantiert, ohne eine Bedürftigkeitsprüfung und ohne einen Zwang zur Arbeit oder Gegenleistung, in ihrem Bereich (z. B. Gesundheit, öffentlicher Verkehr/Mobilität) die Existenz bzw. Teilhabe sichernd (vgl. Blaschke 2019).

Zwölf Kritiken an der Euro-Dividende und Alternativen: Für eine soziale Europäische Union mit Grundeinkommen