aktualisierte Fassung vom 9.4.2021

Zusammenfassung

Alle fünf Jahre werden aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe die Regelbedarfe (Regelsätze) für die Grundsicherungen abgeleitet, die zusammen mit den Kosten der Unterkunft und Heizung das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum bilden – eine Größe, die auch für die Debatte über die Höhe des Grundeinkommens nicht unwesentlich ist. Betrogen werden Grundsicherungsbeziehende genauso wie Einkommensteuern Zahlende durch zu niedrige Berechnungen des Existenzminimums. Das trifft insbesondere jene, die jeden Euro dreimal umdrehen müssen. Plädiert wird für eine alternative Methode der Festsetzung des Existenz- und Teilhabeminimums.

Die unterschiedlichen Regelbedarfe

Alle fünf Jahre werden aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS)[i] die Regelbedarfe für die Grundsicherungen abgeleitet, die zusammen mit den Kosten der Unterkunft und Heizung das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum bilden. So auch aus der EVS 2018, hochgerechnet auf das Jahr 2021. Betrogen werden derzeit aber Grundsicherungsbeziehende genauso wie Einkommensteuern Zahlende: die einen, weil die Regelbedarfe kleingerechnet werden, Betroffene also zu geringe Leistungen erhalten; die anderen, weil vom soziokulturellen Existenzminimum der Grundfreibetrag der Einkommensteuer abgeleitet wird. Niedrige Regelbedarfe = niedrige steuerliche Grundfreibeträge (höhere Steuern), das ist der Zusammenhang! Das trifft insbesondere jene, die jeden Euro dreimal umdrehen müssen.

Die Bundesregierung (2020) hat mit ihrer Methode einen Regelbedarf für alleinstehende Erwachsene (auf Alleinstehende wird sich in der folgenden Studie konzentriert) in Höhe von 446 Euro für das Jahr 2021 aus der EVS „errechnet“.

Eine alternative Berechnung hat die Fraktion DIE LINKE (2020a) in einem Antrag mit 658 Euro plus gesondert Stromkosten und „weiße Ware“ [ii] vorgelegt, angelehnt an diese Berechnung die Parität (2020) mit 644 Euro plus gesondert Stromkosten und „weiße Ware“. Die Fraktion DIE LINKE (2020b) forderte in einem weiteren Antrag im Bundestag die sofortige Erhöhung des Regelbedarfs: „Der Regelbedarf für alle Erwachsenen wird auf 658 Euro zuzüglich der Kosten für Haushaltsstrom und langlebige Gebrauchsgüter angehoben.“ Die Parität (2020) fordert ebenso die sofortige Erhöhung des Regelbedarfs auf die von ihr genannte Höhe.

Die Diakonie (2020a) legte ebenfalls eine alternative Berechnung vor. Sie ergibt einen Regelbedarf von 579 Euro plus gesondert Stromkosten, „weiße Ware“ und weitere Leistungen auf gesonderten Antrag. Die von der Diakonie genutzte Methode soll als Grundlage einer gesellschaftlichen Debatte über die Regelbedarfsermittlung gelten (2020b). In Anlehnung an diese Methode der Diakonie hat sich die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (2020a) in einem Antrag im Bundestag positioniert. Es wird darin eine Regelbedarfshöhe von 603 Euro inklusive Stromkosten und „weiße Ware“ genannt. Im Beschluss der Fraktion vom 15. Dezember 2020 (2020b) wird diese Höhe wiederholt, aber auch die Höhe von 557 Euro ohne Stromkosten und „weiße Ware“ genannt. Es soll eine schrittweise, also nicht sofortige Erhöhung der Regelbedarfe auf diese Höhe erfolgen (ebenda).

Wie wird der Regelbedarf durch die Bundesregierung ermittelt?

Es werden erstens statistisch die Ausgaben einer willkürlich festgelegten Referenzgruppe (die Bundesregierung wählt die unteren 15 Prozent in der Einkommenshierarchie der Alleinstehenden) erfasst (Statistikmethode). Von diesen Ausgaben werden zweitens Abschläge als nicht regelbedarfsrelevante Ausgaben vorgenommen. Durch die Abschläge erfolgt eine Abweichung von der Statistikmethode. Aus der Summe der verbleibenden Ausgaben (ohne Kosten der Unterkunft und Heizung) ergibt sich drittens der sogenannte Regelbedarf.

Die Regierungsfraktionen verteidigen diesen Berechnungsansatz der Bundesregierung und sorgen mit ihrer Mehrheit im Deutschen Bundestag dafür, dass der so ermittelte Regelbedarf vom Deutschen Bundestag im sogenannten Regelbedarfsermittlungsgesetz beschlossen wird (Regelbedarfsermittlungsgesetz).

Was sind die grundlegenden Kritikpunkte an den Regelbedarfsermittlungen?

1. Großer Zirkelschluss

Da die Referenzgruppe zur Ermittlung des Regelbedarfs aus dem untersten Einkommensbereich gewählt wird, sind ihre Mitglieder weitgehend von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen. Es ist deshalb von einem Zirkelschluss die Rede, weil von Armen und sozial Ausgegrenzten abgeleitet wird, was Armen und sozial Ausgegrenzten gegeben werden soll – und zwar mit dem Ziel, Armut und soziale Ausgrenzung zu minimieren bzw. zu eliminieren. Oder anders ausgedrückt: Um zu begründen, was das Existenz- und Teilhabeminimum sei, wird der Personengruppe, deren Ausgaben man zur Bestimmung des Existenz- und Teilhabeminimums heranzieht, unterstellt, dass sie über dieses Existenz- und Teilhabeminimum verfügt. Das trifft sowohl auf die von der Bundesregierung willkürlich gewählte Referenzgruppe zu, und – wenn gleich im geringeren Maße – auch auf die von der Fraktion DIE LINKE, dem Paritätischen, der Diakonie und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Regelbedarfsermittlung willkürlich gewählten Referenzgruppen.

Bezug genommen wird mit dieser Kritik auf die EU-Kriterien für Armut und soziale Ausgrenzung: 1. Einkommensarmut, 2. Materielle Entbehrung, 3. Leben im Haushalt mit sehr geringer Erwerbstätigkeit. Die EU-Mitgliedsstaaten haben sich verpflichtet, Armut und soziale Ausgrenzung zurückzudrängen.

  1. Einkommensarmut

Deutschland hat sich gemeinsam mit anderen EU-Ländern verpflichtet, die Anzahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung Betroffenen, damit auch der von Einkommensarmut Betroffenen[iii], in einem ersten Schritt um 20 Millionen bis 2020 zu senken. Mindesteinkommen müssten daher so ausgestaltet sein, dass deren Höhe Einkommensarmut ausschließt. Sie müssen deswegen mindestens die jeweilige Armutsrisikogrenze erreichen – so auch die Entschließung des Europäischen Parlaments bereits im Jahr 2010, dem Europäischen Jahr der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung: Das Europäische Parlament „vertritt die Auffassung, dass ein angemessenes Mindesteinkommen bei mindestens 60 % des Medianeinkommens des jeweiligen Mitgliedstaats liegen muss.“ (Hervorhebung R.B.)[iv] Das Europäische Parlament kritisiert in dieser Entschließung von 2010 diejenigen „Mitgliedstaaten, in denen die Mindesteinkommenssysteme nicht an die relative Armutsgrenze heranreichen; bekräftigt seine Forderung an die Mitgliedstaaten, dieser Lage möglichst rasch abzuhelfen; fordert die Kommission dazu auf, in der Beurteilung der nationalen Aktionspläne bewährte und auch schlechte Praktiken anzusprechen.“ Dieser Kritik schließen sich die Fraktion DIE LINKE (2018), die Diakonie (2017, 2019) und der DGB (2020) an. Auch die Parität (2020) kritisiert das soziokulturelle Existenzminimum, das unterhalb der Armutsrisikogrenze liegt.[v] Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (2020b).kritisiert in ihrem Beschluss ebenfalls, dass viele Menschen dem Armutsrisiko ausgesetzt werden bzw. Einkommen unter der Armutsrisikogrenze haben.

Wenn nun aber – so wie in Deutschland durch die Bundesregierung – a) über den Umweg der statistischen Erhebung der Verbrauchsausgaben einer willkürlich festgelegten Referenzgruppe der Regelbedarf und damit das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum ermittelt wird, und b) die dazu gewählte Referenzgruppe einkommensarm ist, bleibt deren Verbrauch im Bereich des Verbrauchs von Einkommensarmen. Wer wenig Geld hat, kann sich wenig kaufen, hat also wenig Ausgaben. Damit verbleibt auch der von diesen Ausgaben abgeleitete Regelbedarf, und mit ihm das soziokulturelle Existenzminimum, im Armutsbereich.

An Zahlen verdeutlicht: Die Armutsrisikogrenze der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe lag im Jahr 2018 bei 1.364 Euro (monatlich, netto, Antwort der Bundesregierung auf die schriftliche Frage von Katja Kipping, MdB, 2020a, S. 57, Entwurf des 6. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung 2021, S. 449). Die zur Regelbedarfsermittlung aus dieser EVS 2018 von der Bundesregierung herangezogene Referenzgruppe (Alleinstehende, untere 15 Prozent) hatte ein Maximaleinkommen in Höhe von 1.086 Euro, ein Medianeinkommen von 911 Euro und ein durchschnittliches Einkommen von 858 Euro (monatlich, netto, Antwort auf die kleine Anfrage von Katja Kipping, MdB, 2020b, S. 5). Das heißt, alle Personen der Referenzgruppe zur Ermittlung des Regelbedarfs lagen mit ihrem Einkommen mindestens 280 Euro unterhalb der Armutsgrenze, sehr viele lagen noch weiter darunter. Von Einkommensarmen wird abgeleitet, was Einkommensarmut verhindern bzw. beseitigen soll.  

Wie sieht es aber bei den Alternativberechnungen aus?

Die Parität und DIE LINKE haben zur alternativen Regelbedarfsermittlung eine andere Referenzgruppe als die Bundesregierung genutzt – die unteren 20 Prozent in der Einkommenshierarchie. Aber diese hatten ein Maximaleinkommen von 1.280 Euro (Material 2020)  was 84 Euro unter der Armutsrisikogrenze lag. Also auch hier gilt, wenn auch im geringeren Maße als bei der Bundesregierung: Der Regelbedarf wird von den Ausgaben von Einkommensarmen abgeleitet. Gleiches kann für die Parität ausgesagt werden. Sie nutzt die selbe Referenzgruppe wie DIE LINKE. Unter Punkt 5 wird aufgezeigt, dass auch bei der veränderten Methode der Bestimmung der Referenzgruppe durch die Diakonie und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der gleiche große Zirkelschluss zu beobachten ist: Vom Verbrauch von Einkommensarmen wird abgeleitet, was der Regelbedarf von Grundsicherungsbeziehenden sein soll.  

Daraus folgt, dass sowohl die Bundesregierung als auch die von der Fraktion DIE LINKE, der Parität, der Diakonie und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN per EVS ermittelten Regelbedarfe und davon abgeleitete soziokulturelle Existenzminima weit unter der EVS-Armutsrisikogrenze liegen. Die Armutslücken reichen von über 300 bis über 500 Euro (siehe Tabelle).

1.2 Materielle Entbehrung

Mit der EVS können materielle Entbehrungen[vi] von Menschen nicht nachgewiesen werden. Denn diese werden dort nicht erhoben. Behelfsweise können aber andere Erhebungen zu materiellen Entbehrungen annähernd Auskunft darüber geben, wie gewählte Referenzgruppen von diesen betroffen sind. Materielle Entbehrungen werden z. B. im Rahmen der EU-SILC (European Union Statistic on Income and Living) erhoben – auch mit Bezug zu Armutsrisikogrenze der EU-SILC. Dieser Bezug gibt Auskunft darüber, was jeder und jedem geläufig ist: Wer einkommensarm ist, leidet unter materiellen Entbehrungen, weil sie/er sich eben finanziell nicht genug leisten kann.

Im Einkommensjahr 2017 lag die Armutsrisikogrenze nach EU-SILC bei 1.136 Euro netto monatlich. Das sind 50 Euro über dem Maximaleinkommen, der von der Bundesregierung herangezogenen Referenzgruppe (untere 15 Prozent) zur Bestimmung des Regelbedarfs (1.086 Euro). Das heißt, dass folgende Angaben zu materiellen Entbehrungen dieser Referenzgruppe sogar noch höher ausfallen, weil die Maximaleinkommen der Personen in der Referenzgruppe noch niedriger sind, als die hier zugrunde gelegte Armutsrisikogrenze der EU-SILC: Laut Statistischem Bundesamt litten 40,7 Prozent der Alleinlebenden, die nach der EU-SILC im Jahr 2017 einkommensarm waren, im Jahr 2018 unter materiellen und unter erheblichen materiellen Entbehrungen (drei und mehr Entbehrungskriterien erfüllt). 19,8 Prozent der Einkommensarmen lebten mit erheblichen materiellen Entbehrungen (vier und mehr Entbehrungskriterien erfüllt) (Statistisches Bundesamt 2020, S. 19 und 30). Das heißt also, dass über 41 Prozent der Referenzgruppe, deren Ausgaben die Bundesregierung zur Ableitung der Regelbedarfe nutzt, (erheblich) materiell unterversorgt sind, über 20 Prozent sogar erheblich materiell unterversorgt – weil das Maximaleinkommen dieser Referenzgruppe sogar noch unter der Armutsrisikogrenze der hier zum Vergleich genutzten EU-SILC lag. Festgehalten werden kann: Knapp die Hälfte der Referenzgruppe, von deren Ausgaben das regierungsoffizielle sozialkulturelle Existenzminimum abgeleitet wird, sind materiell und erheblich materiell unterversorgt.

Wie sieht es bei den Alternativberechnungen des Regelbedarfs aus?

Auch die von der LINKEN zur Bestimmung des Regelbedarfs herangezogene Referenzgruppe (untere 20 Prozent) ist zu einem großen Teil von materiellen Entbehrungen betroffen – wenn auch nicht in einem solchen Maße wie bei der von der Bundesregierung herangezogenen Referenzgruppe (untere 15 Prozent). Gleiches kann für die Parität ausgesagt werden, die die selber Referenzgruppe nutzt. Denn das Maximaleinkommen dieser Referenzgruppe (untere 20 Prozent) beträgt 1.280 Euro, deren Medianeinkommen aber nur 1.050 Euro (Material 2020). Die Hälfte der Personen in dieser Referenzgruppe hatte also ein Einkommen unterhalb bzw. bis 1.050 Euro. Das liegt 86 Euro unter der o. g. EU-SILC-Armutsrisikogrenze, bei der rund 41 Prozent (erhebliche) materielle Entbehrungen erleiden mussten (siehe oben). Gleiches trifft auf die Referenzgruppe zu, die die Diakonie zur Regelbedarfsermittlung auswählt (siehe Punkt 5). Die Berechnungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liegen mir nicht vor. Da sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aber im Wesentlichen an der Referenzgruppe der Bundesregierung orientieren, ist die Betroffenheit der Personen dieser Referenzgruppe (untere 15 Prozent) von materiellen Entbehrungen ähnlich wie bei der Bundesregierung. Das heißt: Auch die Alternativberechnungen leiten den Regelbedarf von den Ausgaben von Personen ab, die vielfach mit materiellen Entbehrungen leben müssen. Von mit (erheblichen) materiellen Entbehrungen Lebenden wird abgeleitet, was Armut und soziale Ausgrenzung, mithin materielle Entbehrungen, überwinden soll.

Auch bezüglich materieller Entbehrungen ist also der große Zirkelschluss gegeben – sowohl bei der Berechnung der Bundesregierung als auch (im geringeren Maße) bei den Alternativberechnungen.  

  1.  Leben im Haushalt mit sehr geringer Erwerbstätigkeit

Die Sozialstruktur der von der Bundesregierung zur Ableitung des Regelbedarfs herangezogene Referenzgruppe (untere 15 Prozent) zeigt, dass dreiviertel der Personen nicht erwerbstätig sind – 40 Prozent sind Rentner*innen, über 19 Prozent Studierende, fast neun Prozent Erwerbslose und fünf Prozent sonstige Nichterwerbstätige (Antwort auf die kleine Anfrage von Katja Kipping, MdB, 2020b, S. 7). Für die Referenzgruppen der alternativen Berechnungen liegen keine Daten zur Sozialstruktur vor. Sie dürften aber ähnlich ausfallen, weil sich deren Referenzgruppen mehr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) oder weniger (DIE LINKE, Parität, Diakonie) in der Nähe der von der Bundesregierung gewählten Referenzgruppe befinden.

Das bedeutet, dass das dritte EU-Kriterium für Armut und soziale Ausgrenzung „Leben in Haushalt mit geringer Erwerbstätigkeit“ für einen großen Teil der Personen in der Referenzgruppe zutrifft – nur ein Viertel dieser sind erwerbstätig, bei den Alternativberechnungen vermutlich etwas mehr.

Auch bezüglich des Kriteriums „Leben in Haushalt mit geringer Erwerbstätigkeit“ gilt also der große Zirkelschluss: Von überwiegend nicht Erwerbstätigen, die in der Regel weniger Einkommen als Erwerbstätige haben, wird abgeleitet, wie hoch der Regelbedarf sein soll.

2. Verschuldung bzw. zu geringe Einkommen, um die Ausgaben zu decken

Ein wichtiger Indikator, der anzeigt, ob eine Referenzgruppe geeignet für die Ableitung der Regelbedarfe ist, ist ein Vergleich deren Einkommen mit deren Ausgaben.

Die von der Bundesregierung zur Ableitung des Regelbedarfs herangezogene Referenzgruppe (untere 15 Prozent) hat durchschnittlich 168 Euro weniger Einkommen (858 Euro) als durchschnittlich Gesamtausgaben (1.026 Euro) (Antwort auf die kleine Anfrage von Katja Kipping, MdB, 2020b, S. 7, und Anlage zum Regelbedarfsermittlungsgesetz).[vii] Das heißt, viele Personen in dieser Referenzgruppe müssen einen Teil ihrer Ausgaben vom Ersparten, von Krediten o. ä. decken bzw. sich verschulden. Denn deren Geldeinnahmen reichen nicht aus, um die notwendigen Ausgaben zu decken. Trotzdem wird diese Referenzgruppe zur Ermittlung des Regelbedarfs und damit des sogenannten soziokulturellen Existenzminimums herangezogen.

Wie sieht es diesbezüglich bei den Alternativberechnungen aus?

Ähnlich wie bei der Bundesregierung dürfte die Differenz zwischen Ausgaben und Einkommen bei der von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN herangezogenen Referenzgruppe sein, die ähnlich der von der Bundesregierung gewählten Referenzgruppe ist. Auch die von der Fraktion DIE LINKE und der Parität herangezogene Referenzgruppe (untere 20 Prozent) hat durchschnittlich 79 Euro weniger Einkommen als Ausgaben (durchschnittliches Einkommen: 1.047 Euro, durchschnittliche Ausgaben: 1.126 Euro, Material 2020). Das heißt, auch diese Referenzgruppe ist, wenn auch im geringeren Maße, von Verschuldung und Entsparen betroffen. Bei der von der Diakonie herangezogenen Referenzgruppe beträgt die Differenz geschätzt mindestens 79 Euro (siehe Punkt 5).

Sowohl bei der Berechnung der Bundesregierung, als auch – im geringeren Maße – bei den Alternativberechnungen gilt: Von Personen, die sich verschulden oder ihre Ersparnisse aufbrauchen („entsparen“) müssen, um über die Runden zu kommen, wird abgeleitet, was zum Leben ausreichen soll.

3. Kleiner Zirkelschluss

Kleiner Zirkelschluss bedeutet, dass von Ausgaben der Grundsicherungsbeziehenden abgeleitet wird, was der Regelbedarf in der Grundsicherung sein soll. Das kann man vermeiden, in dem man Grundsicherungsbeziehende aus der Grundgesamtheit der EVS ausschließt, bevor man aus dieser Grundgesamtheit eine Referenzgruppe zur Bestimmung der Regelbedarfe auswählt. Damit wären diese Personen dann auch in keiner Referenzgruppe mehr enthalten. Dies haben sowohl die Bundesregierung als auch DIE LINKE, der Paritätische, die Diakonie und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN getan.

Die Bundesregierung schließt aber nicht sogenannte verdeckt Arme[viii] aus. Das sind Personen, die einen Anspruch auf eine Grundsicherungsleistungen hätten, aufgrund des repressiven, bürokratischen und stigmatisierenden Leistungssystems diese Leistungen aber nicht oder teilweise in Anspruch nehmen. Bei Hartz IV sind das bis zu 50 Prozent der Anspruchsberechtigten (Blaschke 2018), bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 60 bis 68 Prozent (DIW Wochenbericht 49/2019 und Hans-Böckler-Stiftung 2012). Wenn diese Personen in der Referenzgruppe verbleiben, wird faktisch von Personen, die Einkommen unterhalb des regierungsoffiziellen soziokulturellen Existenzminimums haben, abgeleitet, wie hoch der Regelbedarf als Bestandteil des soziokulturellen Existenzminimums sein soll.

Wie sieht es diesbezüglich bei den Alternativberechnungen aus:

Die Fraktion DIE LINKE (Material 2020), die Parität (2020), die Diakonie (Becker / Held 2020) und die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (2020a) nehmen diese Personengruppe teilweise vor der Wahl der Referenzgruppe aus der Grundgesamtheit heraus –, indem sie Personen mit Einkommen unter dem durchschnittlichen soziokulturellen Existenzminimum (Regelbedarf plus durchschnittliche Kosten der Unterkunft und Heizung) vor Bildung der Referenzgruppe aus der Grundgesamtheit herausnehmen. Gänzlich herausgenommen werden „verdeckt Arme“ damit jedoch nicht, weil nicht alle von diesen aus der Grundgesamtheit vor Wahl der Referenzgruppe ausgeschlossen werden, sondern nur diejenigen, die Ansprüche bis zur Höhe dieses durchschnittlichen soziokulturellen Existenzminimums haben. Verdeckt arme Personen mit einem überdurchschnittlichen Anspruch auf Grundsicherungsleistung verbleiben in der Grundgesamtheit, auch in der gewählten Referenzgruppe. Damit bleibt der kleine Zirkelschluss bei den Alternativberechnungen bestehen – wenn auch im geringeren Maße als bei der Bundesregierung.

4. Abzüge von den Ausgaben     

Die Bundesregierung verletzt das Prinzip der Statistikmethode, in dem sie von den statistisch erfassten Ausgaben der Referenzgruppe viele Ausgaben für bestimmte Güter bzw. Dienstleistungen als nicht regelbedarfsrelevant klassifiziert (eine Übersicht dazu z. B. bei der Parität 2020). Denn diese Methode vermischt statistische Ermittlungen mit normativen Regeln, wie mit statistisch erfassten Ausgabenbestandteilen umzugehen ist. Damit wird die Statistikmethode mit der Warenkorbmethode vermischt: Bestimmte Güter und Dienstleistungen werden den Menschen als regelbedarfszugehörig zuerkannt – oder eben nicht.

Wie sieht es bei den Alternativberechnungen aus?

Die Verletzung der Statistikmethode durch die Bundesregierung wird von denjenigen, die Alternativberechnungen vorlegen, heftig kritisiert. Letztlich wird diese aber auf anderem Weg selbst begangen. 

Die Fraktion DIE LINKE (2020a) als auch die Parität (2020) und die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (2020a) verletzen die Statistikmethode ebenfalls, wenn auch im geringeren Maße als die Bundesregierung, in dem sie bestimmte Ausgabepositionen (Strom, „weiße Ware“), die nicht pauschalierbar seien, aus der Ausgabengesamtheit herausnehmen. Diese Güter können dann auf Sondernachweis zusätzlich zum Regelbedarf gewährt werden.

Die Herausnahme aus den Ausgabepositionen und Nichtbeachtung bei den Regelbedarfen trifft für die Diakonie in viel größerem Umfang zu: „Dementsprechend werden im Rahmen der vorliegenden Studie z. B. große Ausgaben für Elektrogeräte, Fahrräder, Wohnungseinrichtung oder Klassenfahrten nicht in den Regelbedarf eingerechnet. Darüber hinaus werden Ausgaben für die Stromversorgung als nicht pauschalierbar gewertet. Diese Ausgaben sollen je nach faktischem individuellem Bedarf gesondert erstattet werden.“ (Diakonie 2020c) Es gelten bei der Diakonie aber noch weitere Ausschlüsse aus dem Regelbedarf, z. B. der Ausschluss der Ausgaben für Kraftfahrzeuge, Fahrrad, Möbel, Teppiche, Park- und TÜV-Gebühren usw. (siehe Becker / Held 2020).

Hintergrund der Deklarierung als nicht pauschalierbare/r Ausgaben- bzw. Regelbedarfsbestandteil ist z. B. beim Strom, dass Pauschalen nicht reale Bedarfssituationen abbilden, schlimmstenfalls der Strom nicht in voller Höhe bezahlt werden kann, abgestellt wird oder Schulden auflaufen. Dieses Argument träfe aber für viele andere Ausgabenpositionen zu, ist also fragwürdig. Bei „weißer Ware“ wird argumentiert, dass die statistisch erfassten Ausgaben und damit auch Pauschalen dafür im Regelbedarf pro Monat sehr niedrig sind (Cent- bzw. einstellige Eurobeträge). Ein Ansparen für den Ausfall z. B. einer Waschmaschine sei bei geringen Regelbedarfen faktisch unmöglich. Oder es bräuchte sehr lange, um die Summe für einen Neukauf zusammen zu haben. Eine Waschmaschine kann aber plötzlich ausfallen. Das würde zu einer problematischen Unterversorgung führen, denn eine Waschmaschine braucht man dringend. Das erste Gegenargument lautet: Auch diese Argumentation wäre auf weitere Ausgaben- und Regelbedarfsbestandteile anwendbar, und das, was im Notfall wirklich unverzichtbar ist, wird von betroffenen Personen unterschiedlich eingeschätzt. Das hätte in der Konsequenz zur Folge massenhaft Ausgaben- und Regelbedarfsbestandteile als nicht pauschalierbar zu bezeichnen und auf Sonderantrag zu gewähren. Damit wäre die Statistikmethode vollkommen ausgehebelt. Das zweite Gegenargument lautet: Wenn die Referenzgruppe so gewählt würde, dass die statistisch ermittelten Ausgaben bzw. Regelbedarfe eine vorübergehende Schmälerung bestimmter Ausgaben-/Regelbedarfspositionen oder ein Ansparen erlauben, um sich im Notfall z. B. eine neue Waschmaschine zu leisten, wäre das Problem gelöst: Hohe Pauschalierungen bedeuten hohe Ausgleichsmöglichkeiten zwischen bestimmten Regelbedarfspositionen in Notfällen. Das setzt aber voraus, dass die Personen in der gewählten Referenzgruppe nicht einkommensarm und unterversorgt sein dürfen, also genügend Einkommen haben. Dies trifft aber auch bei den hier besprochenen alternativen Referenzgruppen zur Ableitung der Regelbedarfe nicht zu. Das heißt, faktisch handelt es sich um eine selbstkonstruierte Problemlage. Die, und das ist ein drittes Gegenargument gegen diese Verletzung der Statistikmethode, eine massive Ausweitung der bestehenden Bedarfs- und Kontrollbürokratie zur Folge hat – mit allen damit verbundenen Stigmatisierungen und Abhängigkeiten von der Sozialbürokratie. Das ist das Gegenteil von moderner Sozialpolitik. Das ist ein Rückfall in die alte paternalistische Armenfürsorge. Denn die Güter und Dienstleistungen müssen gesondert beantragt und deren Notwendigkeit wie deren Kosten gesondert nachgewiesen werden.

5. Bestimmung von Referenzgruppen vermittelt über Abstände zu den Ausgaben der mittleren Einkommensgruppe  

Die Methode der Auswahl der Referenzgruppe bei Diakonie und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN basiert darauf, dass Referenzgruppen gewählt werden, die gegenüber den Ausgaben des mittleren Einkommensquintils (3. Quintil) einen bestimmten Ausgabenabstand nicht unterschreiten. Dies erfolgt nach Herausnahme der Grundsicherungsbeziehenden aus der Grundgesamtheit: „Die Normen sind daran ausgerichtet, dass die Ausgaben der Vergleichsgruppe nur so stark von den Ausgaben der Haushalte mit mittleren Einkommen abweichen, dass gesellschaftliche Teilhabe noch möglich ist. Im Gutachten werden für Ausgabenpositionen in den Regelsätzen die folgenden Abstände gegenüber den entsprechenden Beträgen von Haushalten mit mittleren Einkommen festgelegt: Referenzausgaben für physische Grundbedarfe sollten um maximal 25%, die weiteren Ausgaben um nicht mehr als 40% hinter denen der gesellschaftlichen Mitte zurückbleiben.“ (Diakonie 2020) Bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heißt es noch rigider bezüglich des Abstands zur Mitte: „Bei Einpersonenhaushalten sollen die lebensnotwendigen Grundbedarfe (Lebensmittel, Kleidung) um nicht mehr als ein Drittel, weitere Grundbedarfe (Hygieneartikel, Innenausstattung) sowie die Mittel für die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben (Mobilität, Freizeitgestaltung) um nicht mehr als 60 Prozent vom Konsum in der gesellschaftlichen Mitte abweichen dürfen.“ (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2020a)

Das Vorgehen der Diakonie ist wie folgt: Es werden drei verschiedene Referenzgruppen in Betracht gezogen (Variante 1: untere 20 bis 30 Prozent, Variante 2: untere 6 bis 25 Prozent, Variante 3: untere 20 Prozent) unter teilweiser Herausnahme der „verdeckt Armen“. Der kleine Zirkelschluss verbleibt also. Dann wird gemäß o. g. Norm (Abstand zur Mitte) die passende Referenzgruppe zur Ermittlung des Regelbedarfs ausgewählt. Während die Einkommensgruppe des 3. Quintils (Einkommensmitte) nicht von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen ist, sind es allerdings die Personen in den betrachteten Referenzgruppen im hohen Maße: Die Maximaleinkommen liegen bei zwei von drei betrachteten Referenzgruppen (Varianten 2 und 3) unterhalb der Armutsrisikogrenze der EVS, die Medianeinkommen bei allen drei Referenzgruppen. Es sind also in den in Betracht kommenden Referenzgruppen in sehr hohem Maße Einkommensarme enthalten. Ebenso liegen bei zwei betrachteten Referenzgruppen (Varianten 2 und 3) die Medianeinkommen unter dem Armutsgrenzwert der EU-SILC (1.136 Euro), der zur Bestimmung von (erheblichen) materiellen Entbehrungen (rund 41 Prozent) herangezogen wurde (Becker / Held 2020). Das heißt, auch diese Methode der Ermittlung der Referenzgruppe verbleibt im hohen Maße im großen Zirkelschluss befangen. Das auch nochmal verdeutlicht an der von der Diakonie letztlich ausgewählten Referenzgruppe (Variante 2): In dieser Referenzgruppe, von der der Regelbedarf der Diakonie von 579 Euro abgeleitet wird, sind alle Personen einkommensarm. Ebenso liegt das Medianeinkommen dieser Referenzgruppe mit 1.118 Euro unterhalb des Armutsgrenzwertes (1.136 Euro nach EU-SILC), der zur Bestimmung von (erheblichen) materiellen Entbehrungen (rund 41 Prozent) herangezogen wurde. Also ist auch eine nicht unbedeutende Anzahl von Personen in dieser ausgewählten Referenzgruppe von materiellen Entbehrungen betroffen.

Ebenso wird nicht der kleine Zirkelschluss verhindert, denn auch bei der Diakonie werden nur Haushalte mit durchschnittlichem Grundsicherungsbedarf aus der Grundgesamtheit vor Ermittlung der Referenzgruppe herausgenommen – wie bei der LINKEN und der Parität (siehe Punkt 3). Auch ist die von der Diakonie zur Regelbedarfsermittlung herangezogene Referenzgruppe von Verschuldung und Entsparung betroffen, wie die Referenzgruppen der Bundesregierung, der LINKEN und der Parität. Denn die durchschnittlichen Ausgaben dieser ausgewählten Referenzgruppe (Variante 2) werden mit 1.154 Euro angegebenen. Das durchschnittliche Einkommen der gewählten Referenzgruppe (Variante 2) beträgt aber nur 1.118 Euro. Schon das heißt, dass 36 Euro fehlen würden. Zu beachten ist aber, dass bei den Angaben zu den Ausgaben geschätzt mindestens 43 Euro[ix] fehlen, weil bestimmte Ausgaben (u. a. die Ausgabenkategorien 153 und 154) nicht berücksichtigt werden. Das sind also geschätzt durchschnittlich mindestens 1.197 Euro Gesamtausgaben. Das heißt, viele Personen in dieser Referenzgruppe haben monatlich durchschnittlich mindestens 79 Euro weniger Einkommen als Konsumausgaben (Becker / Held 2020, S. 8, 27, Tabellen 2a, 2b, 3a, und Anlage zum Regelbedarfsermittlungsgesetz).

Es kann also festgestellt werden, dass auch diese alternative Methode der Ermittlung der Regelbedarfe durch die Diakonie genauso fragwürdig ist, wie es die anderen Methoden sind.

Bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heißt es mit Bezug auf die von der Bundesregierung vorgegebene Referenzgruppe: „Auf Basis einer vollständig zirkelschlussbereinigten [gemeint ist der kleine Zirkelschluss, vollständig stimmt aber nicht, R. B.[x]] Grundgesamtheit […] erfüllen die unteren 15 Prozent der nach ihrem Einkommen geschichteten Ein-Personen-Haushalte die angelegten normativen Teilhabekriterien: der maximale Abstand zur gesellschaftlichen Mitte liegt beim lebensnotwendigen Grundbedarf bei knapp einem Drittel, und beim Grundbedarf B sowie der soziokulturellen Teilhabe beträgt der Rückstand zur gesellschaftlichen Mitte weniger als 60 Prozent.“ (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2020a) Mir ist keine öffentlich vorliegende Berechnung des Regelbedarfs durch die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bekannt, auch nicht die Einkommen und Ausgaben der von der Fraktion genutzten Referenzgruppe. Die Einkommen(sgrenzen) und Ausgaben der von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewählten Referenzgruppe (untere 15 Prozent nach teilweisem Ausschluss der „verdeckt Armen“) sind aber ähnlich der von der Bundesregierung genutzten Referenzgruppe (untere 15 Prozent ohne Ausschluss der „verdeckt Armen“). Der im Vergleich zur Bundesregierung höhere Regelbedarf bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ergibt sich letztlich infolge der nicht vorgenommenen Abzüge von Ausgaben als nicht regelbedarfsrelevant. Auch für die Alternativberechnung der Regelbedarfe durch die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gilt also, dass dieser Regelbedarf unter Beibehaltung des großen und des kleinen Zirkelschlusses und von einer teilweise unter materiellen Entbehrungen leidenden und sich verschuldenden und entsparenden Referenzgruppe abgeleitet wird.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die von Diakonie und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genutzte normative Vorgabe eines bestimmten Abstands der gewählten Referenzgruppe zur Einkommensmitte nicht vor dem großen und dem kleinen Zirkelschluss schützt, nicht vor Nutzung einer Referenzgruppe mit Personen, die unter materiellen Entbehrungen leiden bzw. Ersparnisse aufbrauchen oder sich verschulden müssen. Auch wird die Statistikmethode bei der Ermittlung der Regelbedarfe verletzt.      

6. Fazit

Es ist ein Skandal, dass das Existenz- und Teilhabeminimum künstlich kleingerechnet wird: Ob nun mit willkürlich bestimmten Referenzgruppen (Bundesregierung, DIE LINKE, Parität) oder mit willkürlich bestimmten Abständen der Ausgaben von einer mittleren Einkommensgruppe ermittelte Referenzgruppen (Diakonie, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – alle Methoden zeigen die gleichen Schwächen: Die Regelbedarfe werden in allen Fällen von Personen abgeleitet, die einkommensarm sind, und die in sehr hohem Maße (am stärksten bei der Referenzgruppe der Bundesregierung) mit (erheblichen) materiellen Entbehrungen leben (großer Zirkelschluss). Viele Personen in den Referenzgruppen sind auch „verdeckt arm“ (kleiner Zirkelschluss) bzw. von Verschuldung und Entsparung betroffen – am meisten bzw. am stärksten bei der Referenzgruppe, die die Bundesregierung gewählt hat.

Das mit den Methoden der Bundesregierung, der Fraktion DIE LINKE, der Parität, der Diakonie und von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ermittelte soziokulturelle Existenzminimum ist nicht geeignet, weitgehend alle Menschen aus Einkommensarmut und sozialer Ausgrenzung zu befreien.

Auch ist bei den alternativen Regelbedarfsfestlegungen der Fraktion DIE LINKE, der Parität, der Diakonie und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Ausweitung der bestehenden sozialadministrativen Überprüfungs- und Kontrollbürokratie zu erwarten (gesonderte Stromkostenübernahme, gesonderte Gewährung „weißer Ware“ und anderer Güter), insbesondere bei der Diakonie.

Sowohl Grundsicherungsbeziehende als auch Einkommensteuer Zahlende werden durch willkürliche bzw. in sich nicht schlüssige Berechnungsmethoden des Regelbedarfs um Sozialleistungen bzw. steuerliche Grundfreibeträge in Größenordnungen betrogen – denn ihnen steht ein höherer Regelbedarf bzw. ein höherer steuerlicher Grundfreibetrag zu. Das trifft insbesondere jene, die jeden Euro dreimal umdrehen müssen. Dies gilt im besonderen Maße für die Berechnung der Bundesregierung, leider auch für die Alternativberechnungen der Fraktion DIE LINKE, der Parität, der Diakonie und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. 

7. Was sind wirkliche Alternativen?

Die Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums ist eine Bestimmung, die vor dem Hintergrund der Debatte darüber erfolgt, was Menschen mindestens zur Verfügung haben müssen, damit deren Existenz und gesellschaftliche Teilhabe gesichert ist. Das ist keineswegs nur eine „technische“ Frage der Methodenwahl. Das ist im hohen Maße eine machtpolitische Frage: Wer kann sich wie durch die Bestimmung des sogenannten soziokulturellen Existenzminimums Machtpositionen in der Gesellschaft erhalten, Interessen welcher Gruppierungen gegen Interessen anderer Gruppierungen durchsetzen?   

Ich möchte an dieser Stelle kurz nachweisen, dass es letztlich auf das gleiche herauskommt, ob man eine konsequente Statistikmethode (allerdings unter Nutzung einer Referenzgruppe, die nicht Einkommensarme, Menschen mit materiellen Entbehrungen und in „verdeckter Armut“, sich Verschuldende oder Entsparende enthält) oder eine viel einfachere Methode nutzt, um ein ausreichendes Existenz- und Teilhabeminimum zu bestimmen.

Die Fraktion DIE LINKE hat dankenswerterweise mehrere Auswertungen der EVS (Material 2020) vornehmen lassen, nicht nur für die Ausgaben der unteren 20 Prozent in der Einkommenshierarchie, sondern auch für die unteren 10 bis 30 Prozent. Das Maximaleinkommen dieser letzteren Referenzgruppe lag 2018 bei 1.480 Euro (also weit über der Armutsrisikogrenze der EVS von 1.364 Euro), deren Medianeinkommen bei 1.246 Euro (also 118 Euro unter der genannten Armutsrisikogrenze), das minimalste Einkommen bei 1.000 Euro. Diese Referenzgruppe hat also schon mal weniger Einkommensarme und Menschen mit materiellen Entbehrungen in ihren Reihen als die Referenzgruppe der unteren 20 Prozent. Da die unteren 10 Prozent nicht in dieser Referenzgruppe (untere 10 bis 30 Prozent) enthalten sind und der unterste Einkommenswert 1.000 Euro beträgt, dürften auch nicht mehr viele „verdeckt Arme“ in dieser Referenzgruppe enthalten sein. Die durchschnittlichen Gesamtausgaben dieser Referenzgruppe betragen ca. 1.278 Euro, gegenüber durchschnittlichen 1.243 Euro Einkommen. Es bleibt also ein Fehlbetrag von 35 Euro. Der Regelbedarf, ermittelt nach der reinen Statistikmethode (also ohne Abzüge, außer der statistisch ermittelten durchschnittlichen Kosten der Unterkunft und Heizung dieser Referenzgruppe von 418 Euro) aus den Ausgaben dieser Referenzgruppe, läge bei 860 Euro. Die eben genannten statistisch ermittelten Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) dieser Referenzgruppe haben annähernd das Niveau der durchschnittlich durch die Jobcenter anerkannten Kosten der Unterkunft und Heizung für alleinstehende Hartz-IV-Beziehende (391 Euro, siehe Katja Kipping 2020c). Bekannt ist nun, dass die Betroffenen in schlechten Wohnlagen und Wohnungen leben (müssen), weil nur niedrige Mieten von den Kommunen als angemessen anerkannt werden. Nehmen wir an, dass die durchschnittliche Angemessenheit der KdU für alleinstehende Hartz-IV-Beziehende auf durchschnittlich rund 500 Euro erhöht wird, um angemessenes Wohnen zu ermöglichen bzw. die Wohnung bezahlbar zu machen, hätten die Betroffenen durchschnittlich über 100 Euro mehr in der Tasche. Das hätte zur Folge: Verschuldung und Entsparen wären vermieden. Das durchschnittliche Einkommen dieser Referenzgruppe läge dann auch in der Nähe der Armutsrisikogrenze (1.364 Euro). Denn das durchschnittliche soziokulturelle Existenzminimum betrüge 860 Euro Regelbedarf plus durchschnittlich 500 Euro Kosten der Unterkunft und Heizung, also durchschnittlich 1.360 Euro. Auf diesen Wert des soziokulturellen Existenzminimums von 1.360 Euro würde man sicher auch kommen, wenn man eine Referenzgruppe ermittelt, deren Medianeinkommen über der Höhe der Armutsrisikogrenze läge – vielleicht wäre diese Referenzgruppe dann im Einkommensbereich der unteren 20 bis 35 Prozent angesiedelt, so meine Schätzung.

So viel nun zum Jonglieren mit Referenzgruppen und separierten Kosten der Unterkunft und Heizung.

Man kann natürlich, so die einfachste und von mir vorgeschlagene Vorgehensweise, auf den gesamten Statistikapparat verzichten, und wie vom Europäischen Parlament gefordert, die Mindesteinkommenshöhen (also die Höhen von Grund-/ Mindestsicherungen und Grundeinkommen) mindestens in der Höhe der jeweiligen nationalen Armutsrisikogrenze nach EU-Standard jährlich festlegen. (Die einzige im Bundestag vertretene Partei, die diesem Ansatz weitgehend folgt, ist DIE LINKE. Sie schlägt eine Mindestsicherung vor, die mindestens die Höhe der Armutsrisikogrenze erreicht, DIE LINKE 2018). Damit wäre dann wirklich sichergestellt, dass kein Mensch mit einem Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze leben müsste. Auch dürften materielle Entbehrungen erheblich minimiert sein. Diese alternative Vorgehensweise würde viel gesonderten Aufwand für die Ermittlung von Verbräuchen und vor allem methodischen bzw. politischen Streit über die richtige Referenzgruppe zur Ermittlung des Regelbedarfs ersparen. Das ist ein Streit, der letztlich zu Lasten der Grundsicherungsbeziehenden und der Einkommenssteuer Zahlenden geht und diese nicht vor dem Betrug bei der Ermittlung des soziokulturellen und steuerrechtlichen Existenz- und Teilhabeminimums schützt.


[i] „Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ist mit einem Erhebungsumfang von rund 60 000 Haushalten die größte freiwillige Haushaltserhebung. Sie findet alle fünf Jahre statt und ist aufgrund des großen Stichprobenumfangs in besonderem Maße geeignet, tief gegliederte Ergebnisse über die Einnahmen und Ausgaben, die Vermögensbildung, die Ausstattung mit Gebrauchsgütern und die Wohnsituation für die unterschiedlichen Haushaltsgruppen abzubilden.“ (Datenreport 2021, S. 204)

[ii] Bei der Regelbedarfsberechnung der Bundesregierung werden Ausgaben für Strom als auch für die „weiße Ware“ (insbesondere Kühlschrank und Waschmaschine sowie andere langlebige Gebrauchsgüter für den Haushalt) im Regelbedarf abgebildet. Bei den alternativen Berechnungen werden in der Regel diese Ausgaben nicht im Regelbedarf berücksichtigt, sondern als gesondert zu deckende Ausgaben (Strom) bzw. als gesondert zu beantragende und zu gewährende Bedarfsgüter aufgeführt.          

[iii] Mit Einkommensarmut ist die relative Einkommensarmut gemeint. Die sogenannte Armutsrisikogrenze (60 Prozent des mediangemittelten Nettoäquivalenzeinkommens) markiert die Schwelle der relativen Einkommensarmut nach EU-Standard. Netto meint ohne SV-Beiträge und nach steuerlichen Abzügen, also das, was man an Geld real in der Tasche hat.

[iv] Medianeinkommen ist der Einkommensbetrag, bei dem die Hälfte der Einkommensbeziehenden drunter, die andere Hälfte drüber liegt. Das Medianeinkommen ist also nicht zu verwechseln mit dem durchschnittlichen Einkommen (arithmetisches Mittel).

[v] Die Parität verwendet aber dafür die niedrigste Armutsrisikogrenze in Deutschland, die nicht auf der Grundlage der EVS erhoben wurde (wovon auch die Regelbedarfe abgeleitet werden), sondern den zur Ermittlung von Armutsgrenzen ungeeigneten Mikrozensus. Darüber hinaus begeht die Parität einen methodischen Fehler: Es werden die mittels EVS ermittelten Einkommen der von ihr gewählten Referenzgruppe verglichen mit den über den Mikrozensus ermittelten Einkommen und einer davon abgeleiteten Armutsrisikogrenze, um nachzuweisen, dass die gewählte Referenzgruppe nicht einkommensarm sei. Methodisch sauber wäre gewesen, die Einkommen der Referenzgruppe, die sich aus der EVS ergeben, mit der Armutsrisikogrenze, die sich ebenfalls aus der Einkommenserhebung der EVS ergibt, zu vergleichen.  

[vi] Erhebliche materielle Entbehrung liegt nach der EU-Definition dann vor, wenn aufgrund der Selbsteinschätzung des Haushalts mindestens vier der folgenden neun Kriterien erfüllt sind: 1. Finanzielles Problem, die Miete, Hypotheken, Konsumentenkredite oder Rechnungen von Versorgungs-Betrieben rechtzeitig zu bezahlen. 2. Finanzielles Problem, die Wohnung angemessen warm zu halten. 3. Finanzielles Problem, unerwartet anfallende Ausgaben in einer bestimmten Höhe aus eigenen Finanzmitteln zu bestreiten. 4. Finanzielles Problem, jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Geflügel oder Fisch oder eine hochwertige vegetarische Mahlzeit zu essen. 5. Finanzielles Problem, mindestens eine Woche pro Jahr Urlaub woanders als zu Hause zu verbringen (auch Urlaub bei Freunden/Verwandten oder in der eigenen Ferienunterkunft). 6. Fehlen eines Pkw im Haushalt aus finanziellen Gründen. Kein Firmen- oder Dienstwagen. 7. Fehlen einer Waschmaschine im Haushalt aus finanziellen Gründen. 8. Fehlen eines Farbfernsehgeräts im Haushalt aus finanziellen Gründen. 9. Fehlen eines Telefons im Haushalt aus finanziellen Gründen. Materielle Entbehrung liegt vor, wenn mindestens drei der neun Kriterien erfüllt sind.

[vii] Da nur die Werte für die durchschnittlichen Ausgaben der Referenzgruppe vorliegen, müssen diese mit den Werten für die durchschnittlichen Einkommen verglichen werden, nicht mit den Medianeinkommen. Durchschnittliche Gesamtausgaben meint hier den Durchschnitt aller Ausgaben(bestandteile), die die Personen in der Referenzgruppe haben.

[viii] Warum sogenannte verdeckt Arme? Weil der Begriff suggeriert, dass diejenigen, die die Grundsicherungsleistungen vollständig in Anspruch nehmen, nicht mehr arm wären. Dem ist aber – gemessen an der Armutsrisikogrenze – nicht so.

[ix] Geschätzt deswegen, weil keine vollständige Übersicht über alle Ausgaben der gewählten Referenzgruppe vorgelegt wird. Zwecks Schätzung wurden hier behelfsweise die Ausgaben in den genannten Ausgabenkategorien 153 und 154 aus der Übersicht der Ausgaben der Referenzgruppe der unteren 20 Prozent zugrunde gelegt, die annähernd, wenn auch etwas weniger, den Ausgaben der von der Diakonie gewählte Referenzgruppe der unteren 6 bis 25 Prozent entsprechen.  

[x] Denn im Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (2020a) wird genauso bei der angeblichen Herausnahme der „verdeckt Armen“ vorgegangen wie von der LINKEN, der Parität und der Diakonie (vgl. Punkt 3): „Verdeckt Arme Haushalte, also Haushalte, die ihren Anspruch auf Sozialhilfe- und Grundsicherungsleistungen aus Scham oder Unkenntnis nicht geltend machen, können approximativ auf Basis einer pauschalen Grundsicherungsschwelle für die jeweiligen Referenzhaushaltstypen (d. h. Regelbedarf zuzüglich durchschnittlicher Kosten für Unterkunft und Heizung) aus der Grundgesamtheit ausgeschlossen werden.“

Der Regelsatz-Skandal
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