Stell‘ dir vor, du wachst auf und es wäre anders als bisher

An einem schönen Nachmittag im Mai im Jahr 2020 erwachte ich aus einem jahrelangen, tiefen Schlaf. Die hochstehende Sonne lachte meinen blinzelnden Augen zu.

Das Telefon klingelte. Meine Liebste rief mich an. „Gehen wir heute ins Kino?“ fragte sie. „Tarkowskis ‚Opfer‘ kommt, du weißt, DAS Meisterwerk.“

Abends traf ich mich mit der schönen Braunhaarigen* im Kino.

Keine Eintrittsgebühren. Schon auf der Fahrt mit dem Bus zum Kino habe ich mich gewundert: kein Fahrkartenautomat, keine Fahrpreisaushänge an den Haltestellen. Irgendetwas musste während meines Schlafes passiert sein. 

Am Eingang des Kinos wurden Getränke angeboten: Ein kostenloses Bio-Bier – ein großes Glas Kristallweizen aus lokalem Gersten-, Weizen- und Hopfenanbau mit einer Scheibe Bio-Zitrone und einigen Bio-Reiskörnern darin, damit es so schön im Glas perlt. Kostet nix? Meine Braunhaarige klärte mich auf: Es wäre sozusagen eine Kost-nix-Werbung für die Öko-Brauerei nebenan. Sie selbst bestellte sich ein Glas Rotwein – rot, samtig, hervorragende Bioqualität aus Frankreich.

Ich fragte, ob sie sich den guten Wein leisten könne. „Ja, ich habe zwar zurzeit nur das Grundeinkommen – aber das ist allemal drin.“ Ich horchte auf. Grundeinkommen? Vor meinem langen Schlaf hatte ich mit vielen Freundinnen und Freunden und den sozialen Bewegungen dafür gestritten. „Das gibt es?“ Die Braunhaarige schaute mich mit ihren schönen Augen verwundert an. „Klar!“. Klar? Ich war erstaunt. Nach dem Film wollte ich mehr wissen. Doch jetzt versanken wir erst einmal in die Welt Tarkowskis.

Später liefen wir die abenddunkle, schwach beleuchtete und von kräftigen Bäumen begleitete Straße entlang. Kein Autoverkehr, leise Elektrobusse, Leute mit Fahrrädern. Aus einigen offenen Fenstern der abseits der Straße liegenden Häuser hörten wir Kinder, die nach ihren Vätern riefen. Sie wollten zum Einschlafen eine Geschichte hören. Nach ihren Vätern? „Ja“, sagte meine Schöne. Deren schelmisches Lächeln konnte ich im Halbdunkel nur erahnen. Viele Mütter, überhaupt viele Frauen, würden zu dieser Zeit immer in kleinen, nur ihnen zugänglichen Zirkeln darüber debattieren, was sie von der deutlich gestiegenen alltäglichen Begleitung der Kinder durch ihre Männer halten sollten. Das behauptete meine Liebste. Aber irgendwie spürte ich deren schelmisches Lächeln sehr deutlich. Abendliche Zirkel, nur für Frauen? Ich beschloss, nicht weiter danach zu fragen.

Wir kamen auf das Grundeinkommen zu sprechen. „Das wurde doch heftig von den Volkswirtschaftlerinnen und Volkswirtschaftlern bekämpft, von denjenigen, die meinten, dem Volk erklären zu müssen, was Wirtschaft sei – nämlich der Verkauf der Arbeitskraft, um etwas zum Verkauf herzustellen, was man dann kaufen kann. Die Arbeit mit Lohnarbeit verwechselten, Konsum statt Bedürfnisbefriedigung predigten, und das alles, damit die Kapitalmaschine gut geschmiert laufen kann.“ Jetzt lachte meine Braunhaarige laut: „Ja, ja. Mit den sich Keynesianer Nennenden haben wir Keynes-Seminare gemacht, z. B. sein Essay über die ‚Wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder‘ gelesen. Nachdem sie ihn endlich verstanden und mit feministischen Ökonominnen diskutiert hatten, setzten sie sich gemeinsam für eine neue Ökonomie ein.“ „Eine neue Ökonomie?“ „Ja, eine ökologische Ökonomie, mit ganz wenig Verbrauch von Naturressourcen, die demokratisch organisiert ist, eine Ökonomie, die auch den Nahverkehr, das Internet, Bildung, Kultur und soziale Dienstleistungen gebührenfrei anbietet. Eine Ökonomie, die an den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer orientiert ist, die auch lokal und regional orientiert ist, die das Grundeinkommen als Freiheits- und Demokratiepauschale jedem Menschen zuerkennt. Eigenproduktion – allein, im Freundeskreis oder in Kooperativen – wird mithilfe der 3D-Drucker leichter, gemeinsame Werkstätten werden kommunal gefördert. Die Beschäftigten im sozialen Dienstleistungsbereich stimmen ihre Angebote mit den Nutzerinnen und Nutzern ab, auch mit denen, die sich in der Familie und mit anderen gemeinschaftlich um diese Menschen sorgten. Das Grundeinkommen befördert eine Umverteilung der bezahlten Arbeit. Unfreiwillige Erwerbslosigkeit gibt es faktisch nicht mehr.“ „Stopp, stopp“ rief ich. Ich konnte nicht so schnell folgen. Die schöne Braunhaarige erzählte aber ganz erregt weiter: „Stell‘ dir vor, die Männer hörten auf mit der unsinnigen Produktion von vielen Autos und von Waffen, mit der Entwicklung der Chemiekeulen für Drogerien – und widmen sich jetzt mehr ihren Kindern und den Frauen, auch der Begrünung und Instandhaltung von Spielplätzen, den selbstorganisierten Gesundheits- und Kinderläden, kommunalen Kinos und, und, und… Kulturelle, künstlerische Angebote und soziale Dienstleistungen haben wir natürlich bedeutend besser finanziert als früher. Die Ausgaben im öffentlichen Gesundheitsbereich konnten enorm gesenkt werden. Warum? Na, weil wir gesünder, ökologischer produzieren, konsumieren, leben – somit auch gesünder sind.“ Ein Stirnrunzeln bei mir, die sprudelnde Erklärung von ihr: „Weißt du noch, wie wir über die Folgekosten profitgetriebener Marktwirtschaft diskutiert haben, über den Unsinn, ökologische Schäden an Natur sowie soziale und gesundheitliche Schäden an Menschen erst zu produzieren, damit sie dann wieder, finanziert aus unseren Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern, behandelt und beseitigt werden? Weißt du noch, wie wir über das Konzept der vorsorgenden Arbeit und Ökonomie im Gegensatz zur damaligen destruktiven Wirtschaftsweise debattiert haben?“  

Uff! Das alles war ein bisschen viel auf einmal. „Was ist aber mit denen, die unsere Gesellschaft mit ihren unterkomplexen ökonomischen Theorien jahrzehntelang traktiert haben?“ Sie lachte: „Diese Buchmacher und Verkäufer unserer Seelen haben wir in die Schranken gewiesen. Viele neoliberale ‚Ökonomen‘ sind gegangen und unbekannten Aufenthalts. Wie einige hartleibige Gewerkschaftsfunktionäre und vermeintliche Keynesianer auch. Wahrscheinlich schämen sie sich jetzt für ihr damaliges Verhalten. Sie können gern zu uns zurückkommen. Denn jede und jeder macht ja mal Fehler!“ Sie ergänzte: „Mit unserer heutigen Bildung und der Demokratie, die den Alltag der Menschen prägt, beugen wir dem einseitigen Wirtschaftsverständnis der alten Zeit und der Macht der Herren der ehemaligen Arbeitsgesellschaft vor. Jedes Kind weiß heute, dass es nicht um Arbeitsplätze, sondern um ein gutes Leben für alle geht – ein Leben, dass so luxuriös wie noch nie ist.“ Luxuriös?? „Ja“, mit einem perlenden Lachen drückte sie mir zwei Seiten bedruckten Papiers in die Hand. „Was ist eigentlich Luxus?“ war die Überschrift.            

Langsam dämmerte es. Wofür ich jahrelang gestritten hatte, hat sich scheinbar erfüllt – zumindest teilweise. Eine auf Freiheit, Demokratie, Solidarität basierende Gesellschaft, eine Ökonomie, die das Wort oikos ernst nimmt. Die begriffen hat, dass die Würde eines Menschen über jeden Preis erhaben ist, keinen Preis haben kann, und dass Bildung freie Entwicklung individueller Fähigkeiten meint und Selbstbestimmung in Solidarität zum Ziel hat. Und ich habe das alles verschlafen. 

„Schön für dich. Und für mich“, sagte sie und küsste mich. Sie zog mich langsam unter einen Baum, der sich freundlich zu uns neigte, und flüsterte: „Wer gut schläft, sammelt Kräfte – und, und … und wird sanft.“ Schon wieder das berückende, schelmische Lächeln. Diesmal ganz nah an mir.

Für die Inspiration danke ich u. a. der AG links-netz, Adelheid Biesecker, Ronald Blaschke, Erich Fromm, André Gorz, André Heller, Immanuel Kant, Karl William Kapp, John Maynard Keynes, Katja Kipping, Karl Marx und Thomas Spence, Gabriele Winker, den vielen Frauen, der großen Göttin und dem unsagbar Unbekannten.

* Die geneigte Leserin und der geneigte Leser sollten wissen, dass es sich um diejenige Braunhaarige handelt, die mit mir im Jahr 2009 den 1. Mai in kämpferischer Absicht gefeiert hatte.

Stell‘ dir vor, du wachst auf und es wäre anders als bisher
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